Andacht vom 23. August 2015

 

Wort zum 12. Sonntag nach Trinitatis, 23. August 2015

„Das geknickte Rohr wird er nicht zerbrechen, und den glimmenden Docht wird er nicht auslöschen“.


An diesem Wochenspruch für den kommenden Sonntag berührt mich jedes Mal seine Behutsamkeit und seine geradezu zärtlich anmutende Geste des Schutzes. Ein geknicktes Rohr, ein glimmender Docht – beides Symbole für Momente äußerster Schwäche und menschlicher Verletzbarkeit, vielleicht auch Symbole für langsam verlöschendes Leben.

Über solchen Momenten menschlichen Lebens eröffnet der Prophet Jesaja einen Schutzraum der Güte Gottes und verleiht ihnen damit Würde und Achtung. Das ist nicht selbstverständlich. Ich erlebe in Debatten um aktive Sterbehilfe oder assistierten Suizid, wie schnell schwere Krankheit, langes Leiden, Demenz u.a. als „unwürdig“ bezeichnet werden, weil sie ein selbstbestimmtes Leben deutlich in seine Grenzen weisen.

Natürlich wünscht sich jeder, dass ihm eine solche Endphase des Lebens möglichst erspart bleibt. Aber „unwürdig“ ist sie deshalb nicht. Das heute verbreitete Verständnis von „Würde“ meint vor allem das selbstbestimmte, aktive Leben. „Würde“ im Sinne von Selbstbestimmung scheint der oberste Wert, quasi die neue Religion modernen Selbstbewusstseins zu sein. Gegenüber Zeiten politischer Abhängigkeit und religiöser Bevormundung ist dies ein großer Fortschritt an Freiheit.

Aber diese Freiheit beginnt zu kippen und ihre inhumane Seite zu zeigen. Inhuman wird sie, wenn sie Menschen entsolidarisiert unter dem Motto: „Das muss jeder selbst entscheiden“. Es gibt Situationen, in denen ich etwas nicht mehr selbst entscheiden kann und will, wo mich der Anspruch, alles selbst bestimmen zu können und zu müssen, überfordert. Ein Krankenpfleger hat mir einmal gesagt: „Je schwächer ein Patient wird, umso mehr ist er bereit seine Verantwortung in meine Hände zu legen“.

Wie wichtig ist es dann, nicht von einem Umfeld umgeben zu sein, das solche Verantwortung unter Hinweis „das musst Du schon selbst entscheiden“, zurückweist, und mir dazu das Gefühl vermittelt, meine Situation sei „unwürdig“ und könne doch auch „aktiv“ beendet werden. In solchen Momenten wünsche ich mir Menschen an meiner Seite, die um den Schutzraum der Güte Gottes wissen, der auch dem geknickten Rohr und dem glimmenden Docht noch Würde zuerkennt, ihnen Achtung und Schutz verleiht.

von Hans Schmidt, Pfarrer im Ruhestand in Halle