Wort zum 08. Mai 2020

Die Gesichter der Alten spiegeln noch heute die Erfahrungen der Kindheit.

Die Begegnung mit einer 92jährigen Versmolderin hat mich sehr beeindruckt. Als Fünfjährige hat sie die große Hungersnot in Folge der Kollektivierung der Landwirtschaft in der damaligen Sowjetunion erlebt. Sie war 12 als der Krieg kam. Ihr Vater war vermisst und sie wurde mit Mutter und den vier Geschwistern mit allen anderen Deutschen im Viehwagon nach Sibirien verschleppt. Dort wurde ihnen als Quartier ein Badehaus zugewiesen. An den Wochenenden mussten sie raus, weil dann die Dorfbewohner*innen badeten. Es gab nichts zu essen. Die Familie musste betteln und erst nach und nach gaben ihnen die Dorfbewohner Arbeit. Mit 16 kam sie in die sogenannte Trudarmee, in der die Deutsch-stämmigen Zwangsarbeit leisten mussten. Sie arbeitete in einem Bergwerk, im Sprengkommando, später in einem Heizkraftwerk.

75 Jahre ist es her, dass der Zweite Weltkrieg in Europa zu Ende ging. Inzwischen sind nur noch wenige Zeitzeug*innen am Leben, die uns erzählen können, was war. Menschen, die als Kinder Dinge erlebt oder gesehen haben, die sich für ihr ganzes restliches Leben in ihre Seelen eingebrannt haben. Erfahrungen von Hunger, Zwangsarbeit, Konzentrationslager, Flucht und Vertreibung. Wenn ich heute einem Zeitzeugen begegne, habe ich großen Respekt vor der Kraft zu überleben, die derjenige aufgebracht hat. Kraft immer wieder neu anzufangen, wenn das Leben willkürliche, chaotische Bahnen nimmt. Und daran nicht zu zerbrechen, sondern die Hoffnung auf eine gute Zukunft zu bewahren.

Die heutige Herrnhuter Losung spiegelt eine Grundhaltung des Glaubens, aus der diese Kraft erwächst. „Herr, lass mir deine Barmherzigkeit widerfahren, dass ich lebe.“ Psalm119, 77. Ein Gebet, das Hoffnung gibt in dunklen Zeiten, auch heute.

Das Gesicht meiner Zeitzeugin strahlt Zufriedenheit aus und Dankbarkeit. Mit ihrer Familie lebt sie seit 25 Jahren in Versmold.

von Elisabeth Hübler-Umemoto, Gemeindepfarrerin in Versmold