Andacht zum 06.Juli 2025

Innehalten

Zu den eindrücklichsten Werken des französischen Schriftstellers Albert Camus (1913-1960) gehört ein philosophischer Text: „Der Mythos von Sisyphos“. Sisyphos ist eine griechische Sagengestalt. Wegen schlechten Lebenswandels wurde er verurteilt, für ewige Zeiten einen schweren Felsbrocken auf den Gipfel eines steilen Berges zu wälzen, der immer wieder herunterrollt. Dieses Gefühl vergeblicher Mühsal ist für viele Menschen zur Alltagserfahrung geworden. Camus beschreibt sie mit wenigen Worten: „Aufstehen, Straßenbahn, vier Stunden Büro oder Fabrik, Essen, Straßenbahn, vier Stunden Arbeit, Essen, Schlafen, Montag, Dienstag, Mittwoch, Donnerstag, Freitag…, immer derselbe Rhythmus - das ist sehr lange ein bequemer Weg. Eines Tages aber steht das „Warum“ da, und mit diesem Überdruss, in den sich Erstaunen mischt, fängt alles an.“

Ein kindliches „Warum“, das staunend für einen Moment alles zum Stillstand, zum Innehalten bringt, ehe die nächste Binsenwahrheit die Lebenswirklichkeit überrollt und beherrscht, das ist immer ein guter Anfang. Wer dagegen in seinen Alltagsmühen restlos aufgeht, geht darin unter. Er tut vieles, aber dieses Viele kann genau das Verkehrte sein. Im Innehalten fand auch Jesus seine Kraft, um die Menschen zu verstehen und ihre Alltagsnöte zu teilen. Er zog sich zurück und betete. 

Innehalten verwandelt uns und unseren Alltag. Unsere Seele wird nicht mehr einer Scheune gleichen, „in die alles von allen Seiten wahllos eingefahren wird, Tag für Tag, bis sie bis zum Dach mit Alltag gefüllt ist...“ (Karl Rahner). Sie wird vielmehr zu einem Raum, in dem der Glaube zur Liebe gedeiht. Wenn wir gelernt haben, dass die Liebe Gottes im Alltag verborgen liegt wie ein „Schatz im Acker“ (Mt 13, 44), nimmt das dem Alltag nicht seine Plage; aber es gibt ihm einen Sinn, der uns davor bewahrt, alltäglich zu werden. 

 

Matthias Storck ist Pfarrer im Ruhestand