Andacht vom 28. Oktober 2012

28. Oktober 2012 – 21. Sonntag nach Trinitatis

Der Gelähmte

Es war im September dieses Jahrs, als wir, die Pfarrerinnen und Pfarrer des Evangelischen Kirchenkreises Halle, das Bibeldorf in Rietberg besuchten. Es war beeindruckend, was aus dem Bibeldorf in den vergangenen Jahren geworden ist. Der theologische Leiter, Pfarrer Dietrich Fricke, führte uns durch die Räume und über die Anlagen. Ausführlich erläuterte er uns alles.

Besonders fielen mir die Wohngebäude auf, die die Wohnsituation der Menschen zurzeit Jesu darstellten. Am Beispiel des Gelähmten (Evangelium des Markus 2, 1-12) machte Pfarrer Fricke uns deutlich, wie man damals vor 2.000 Jahren lebte: Jesus war wieder einmal im Hause seines Freundes in Kapernaum, so Fricke. Dass Jesus wieder einmal im Dorf war, sprach sich herum – und so war es kein Wunder, dass das Haus gefüllt war. In dem großen Wohnraum des Hauses standen dichtgedrängt die Menschen aus dem Dorf. Nur einer konnte nicht rechtzeitig dort sein. Das war der Gelähmte.

Vier Freunde aber holten ihn ab und brachten ihn mit... Nur, was sollten sie mit dem Gelähmten machen? Das Haus war schon voll und Jesus predigte. Die Freunde, so Fricke, waren erfinderisch: Sie stiegen der Gemeinde aufs Dach, öffneten die Dachluke und ließen den Gelähmten hinab.

Moment, Dachluke? – Ja, erläuterte Fricke, Dachluken gab es damals. Die Leute hielten sich gerne auf dem Dach auf. Es war einfach schön da oben auf der großen Dachfläche, die so stabil war, dass eine ganze Familie dort oben Platz nehmen konnte.

Moment mal! Dachluke? – Hatte ich nicht den Kindern und Jugendlichen im Religions- und Konfirmandenunterricht etwas anderes erzählt? Hatte ich nicht von dem Lehmdach gesprochen, dass durch Reisig zusammengehalten wurde? Hatte ich nicht immer wieder das Problem des Staubes ausgeklammert, das da beim Öffnen des Daches auf die Menschen herabrieselte?

Ich wurde sehr nachdenklich: Da haben es die Religionslehrer heute besser. Sie können sich mit ihren Schülerinnen und Schülern den Ort des Geschehens ansehen. Sie können sehen, hören, schmecken und fühlen wie es war. Und dann, so denke ich, ist es einfacher, ihnen den Satz Jesu zu erklären, der da lautete: Als Jesus den Glauben der vier Männer auf dem Dach sah, sprach er zu dem Gelähmten: „Dir sind deine Sünden vergeben.“ (Markus 2,5)

von Kurt Kükenhöner, Pfarrer i.R.