Andacht vom 10. November 2013

10. November 2013 - Drittletzter Sonntag im Kirchenjahr

„Der Herr richtet auf, die niedergeschlagen sind.“  Psalm 146,8

Der 9. November ist ein denkwürdiger Tag in der deutschen Geschichte. Kein anderer verbrecherischer Akt des NS-Regimes gegen die jüdische Bevölkerung war so sichtbar und unmittelbar erfahrbar wie die Reichspogromnacht, die Nacht vom 9. auf den 10. November 1938. Die ganze Nacht über bis weit in den nächsten Tag hinein zerstörten marodierende Deutsche die meisten Synagogen des Landes und verwüsteten tausende jüdischer Wohnungen und Geschäfte. Sie töteten Hunderte Juden und misshandelten noch viel mehr. Die Bilder dieses Tages sind fest im kollektiven Gedächtnis verankert: die brennenden Synagogen, die zerbrochenen Schaufensterscheiben, die Plünderungen, die zerrissenen Tora-Rollen. Das war der Anfang, dann wurde die jüdische Bevölkerung systematisch vernichtet.

Der 9. November ist aber auch ein Tag der Freude für unser Land. Uns allen stehen noch sehr lebendig die Bilder der Öffnung der Berliner Mauer am 9. November 1989 vor Augen, jener phantastischer Abend, an dem Menschen aus Ost- und Westberlin einander in die Arme fielen, jener Abend, der das Ende der Teilung Deutschland besiegelte. Es ist wichtig, wenn auch nicht ganz einfach, alle Facetten dieses Tages wahrzunehmen und entsprechend zu würdigen. Wozu denn auch der 9. November 1918 gehört, an dem Kaiser Wilhelm II zur Abdankung gezwungen wurde und der Sozialdemokrat Philipp Scheidemann vom Reichstag die Deutsche Republik ausrief.

Wie sollen wir, unsere Gesellschaft, unsere Gemeinden, unsere Kirche diesen Tag angemessen begehen? Was wollen wir unseren Kindern und Kindeskindern über diesen Tag weitergeben? Was soll die nachfolgende Generation über diesen Tag unbedingt wissen? Die Antworten auf diese Fragen werden unterschiedlich ausfallen, je nachdem, woher wir kommen, wie wir selber bisher den 9. November im Laufe unseres Lebens erlebt haben, welche Ereignisse wir am stärksten mit ihm verbinden.
Wie immer wir diesen Tag begehen, es darf auf jeden Fall keine Erinnerungskonkurrenz zwischen dem unterschiedlichen Gedenken geben. Tiefer Schrecken, unbeschreibliche Schuld und Trauer auf der einen Seite. Jubel, ausgelassenes Feiern und Freudentränen auf der anderen Seite, all diese Gefühle gehören zu diesem Tag dazu und haben ihre Berechtigung. Dieser Tag, der der deutsche Gedenktag schlechthin ist. Vermutlich ist das auch der tiefere Grund, warum der 9. November nicht zu einem nationalen Feiertag geworden ist, dass wir wohl überfordert wären, diesen Tag angemessen zu würdigen und zu gestalten angesichts dieses Spektrums von Gefühlen und Erinnerungen.

Ich möchte, dass unsere Kinder wissen, dass uns ganz viele Menschen fehlen, die hier beheimatet waren. Und ich versuche mir vorzustellen, wie unser Land, unsere Kultur aussehen würde, wenn die jüdische Bevölkerung in Deutschland, in Europa, ganz normal weitergelebt hätte: Wie sähe unsere Gesellschaft dann wohl aus?

Mit den Gotteshäusern fing es an, das sollen auch unsere Kinder wissen, gerade heute, wo wir um angemessene Formen des Zusammenlebens zwischen Menschen verschiedener Kulturen und Religionen ringen.

„Gott richtet auf, die niedergeschlagen sind“, heißt es in dem diesjährigen Losungswort für den 9. November aus Psalm 146. An allen Tief- und Höhepunkten des Erinnerns und Gedenkens unserer Geschichte und auch unseres persönlichen Lebens macht uns dieses Psalmwort bewusst, dass die Zusage unseres Gottes unverbrüchlich steht und zwar sowohl für die, die durch unermessliches Leid gegangen sind als auch für die, die schwere Schuld auf sich geladen haben. Gott richtet die zerbrochenen Herzen auf, er nimmt die mit Schuld Beladenen an. Daran dürfen wir Gott stets neu erinnern und ihn bitten:

Heile, unsere zerrissene Welt, Gott,
stifte Versöhnung unter den Völkern
und breite deinen Frieden aus über deiner ganzen Schöpfung.

von Claudia Bergfeld, Pfarrerin in der Evangelischen Kirchengemeinde Werther und Frauenbeauftragte