Andacht vom 22. November 2015

Andacht zum Ewigkeitssonntag, 22. November 2015

Ein Auge, und darunter: eine Träne. Und daneben noch eine Träne. Alles in schwarz-weiß. Das Auge aber schimmert in drei Farben: blau, weiß und rot. – Mit diesem Bild haben Men-schen im Internet gezeigt: Ich trauere mit den Angehörigen der Opfer von Paris. Noch andere Bilder gab es nach dem Attentat vom 13. November, mit denen Menschen ihre Trauer und ihr Mitgefühl zeigten. Manch einer unterlegte sein Foto bei Facebook mit den drei Farben der französischen Flagge. Andere griffen auf das Peace-Zeichen in Form des Eiffelturms zurück, das ein Graphiker aus Frankreich gezeichnet und veröffentlicht hatte.

Mir werden aber vor allem diese Bilder in Erinnerung bleiben: Wie tausende Menschen in Paris und in anderen Städten ihren Tränen freien Lauf ließen. Kerzen anzündeten. Blumen niederlegten, Briefe oder Stofftiere. Und an die Ermordeten dachten, gemeinsam. Und um sie trauerten.

Mir werden vor allem diese Bilder in Erinnerung bleiben, weil sie so selten sind. Und so kostbar. Profilbilder und Graphiken in den sozialen Netzwerken sind schöne Signale – aber eben allein in der virtuellen Welt. Menschen hingegen, die zulassen, dass andere sie trauern sehen, so nah, dass man sie anfassen könnte – die sind selten.

Der Apostel Paulus bittet einmal seine Mitchrist(inn)en (Römer 12,15): „Weint mit den Weinenden.“ Paulus meint damit kein bloßes Mitmachen. Er möchte, dass wir Christenmenschen die Nöte unserer Schwestern und Brüder wirklich mittragen.

Das Attentat von Paris ist solch eine Not, ohne Zweifel. Der 13. November hat uns aber auch noch eine andere Not vor Augen geführt. Nämlich diese: Viele von uns schämen sich erst dann nicht mehr, sichtbar zu trauern, wenn ein extremes Unglück geschehen ist.

Am Sonntag begehen wir den Ewigkeitssonntag. Jede Blume, die wir an einem Grab nieder-legen, jede Kerze, die wir entzünden, und jede Träne, die wir an diesem Tag zulassen, wird uns das Herz leichter machen. Und wird zugleich anderen helfen, ihre Trauer ebenfalls zu zeigen.

von Dr. André Heinrich, Pfarrer der Evangelisch-lutherischen Kirchengemeinde Brockhagen