Andacht vom 08. September 2019

Wort zum 12. Sonntag nach Trinitatis, 8. September 2019

„Unerhört! Diese Obdachlosen“, „Unerhört! Diese Alten“, „Unerhört! Diese Flüchtlinge“, „Unerhört! Diese Nichtwähler“, „Unerhört!...“. Seit Monaten fallen mir immer wieder Plakate mit dieser Aufschrift ins Auge. Sie gehören zu einer Kampagne der Diakonie Deutschland, mit der diese eine breite gesellschaftliche Diskussion über gerechte soziale Teilhabe anstoßen möchte.

Man muss einen Moment überlegen, um die Doppeldeutigkeit der Aussage zu verstehen: „Unerhört“ – das ist ein Ausruf, der Protest und Empörung über ein Verhalten signalisiert, das als dreist und unanständig empfunden wird. „Unerhört“ – das ist aber zugleich auch ein Hilferuf derer, über die geurteilt wird, ohne dass sie selbst ausreichend angehört wurden.

Die Kampagne der Diakonie macht darauf aufmerksam, dass allem Urteilen und (diakonischen) Handeln das aufmerksame und empathische Zuhören vorausgehen muss. Welches Lebensschicksal haben mir die Obdachlosen, die Alten, die Flüchtlinge, die Migrantenkinder, die besorgen Bürger, die Nichtwähler und die Alltagshelden – all diese Gruppen werden von der Kampagne erfasst, aber die Liste ließe sich beliebig erweitern –zu erzählen? Zu einer Kultur der Achtsamkeit und Wertschätzung gehört es unverzichtbar, Menschen im persönlichen Gespräch zu Wort kommen zu lassen, ihre je individuellen Erlebnisse, Sorgen, Nöte, Existenzängste ernsthaft wahrzunehmen. Dass ihnen zugehört wird, ist für viele Betroffene allein schon eine befreiende und entlastende Erfahrung und damit eine echte Hilfe.

Warum ist es aus christlicher Sicht so wichtig, sich Menschen mit dieser Intensität des Hörens und Helfens zuzuwenden? Ein Schlüsselvers der Bibel ist für mich in diesem Kontext Matthäus 25, Vers 40. Hier sagt Jesus in seiner Rede vom Weltgericht: „Wahrlich, ich sage euch: Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan.“ Der gekreuzigte, auferstandene und erhöhte Christus begegnet mir im (notleidenden) Nächsten. Die Aufmerksamkeit für die „Unerhörten“, das Zuhören führt mich daher im Alltag in die Christusbegegnung hinein. Es ist nicht allein Aufgabe „der“ Diakonie, dies zu tun, sondern eine – zunächst vielleicht als „unerhört“ empfundene, letztlich jedoch beglückende! - Anforderung an jeden Christen.

Von Pfarrer Thilo Holzmüller, Schulreferent der Evangelischen Kirchenkreise Halle und Gütersloh