Andacht vom 20. Januar 2019

Andacht zum 2. Sonntag nach Epiphania - 20. Januar 2019

Selbständig


Es gehört zu dem Schlimmsten, was auf einer Reise passieren kann: Das Kind geht verloren. Grausame Gedanken schießen den Eltern durch den Kopf: War es ein Unfall? Eine Entführung? Habe ich nicht genügend aufgepasst? War es die Schuld des Partners?
Die kleine Familie war mit einer Reisegesellschaft unterwegs. Eine Städtereise in Israel. Bei der Weiterfahrt von Jerusalem musste es passiert sein. Die Gesellschaft war schon auf dem halben Weg nach Nazareth, als die Eltern das Fehlen ihres zwölfjährigen Jungen bemerkten.
Der Vater versuchte zu scherzen: „Bestimmt guckt er sich noch eine Sehenswürdigkeit an. Vielleicht den Tempelberg.“ Die Mutter starrte ihn an. Schwieg. Schaute weg. „Ich mein ja nur. Unser Herr Sohn ist in letzter Zeit ganz schön selbständig geworden.“ Aber der Vater glaubte selbst nicht wirklich an die Idee, dass ihr Junge den Aufstand probte.
Auf dem Weg zurück nach Jerusalem kam der Mutter ein abgründiger Gedanke. Wie wäre es eigentlich, wenn ihr Mann Recht hat? Wie kränkend wäre das? Der Mutter graute, als sie spürte, dass ihr ein Unfall fast lieber wäre. Sie biss sich auf die Lippen und schwieg. Hatte ihr Mann ähnliche Gedanken? Reden konnten sie jedenfalls nicht miteinander. Würde es zwischen Eltern und Sohn je wieder so sein können wie früher?
Als sie ihn am Tempelberg entdeckten, schrie sie ihn an: „Mein Sohn, warum hast du uns das angetan? Dein Vater und ich haben dich mit Schmerzen gesucht.“ Der Vater schwieg. Der Junge schaute sie verständnislos an, als ob er fragen wollte, warum sie ihn überhaupt gesucht hätten. Ob sie nicht wüssten, dass er eigentlich im Tempel sein müsse.
Dann hatten die Eltern geweint. Erleichtert, aber auch erschrocken. Es würde tatsächlich nie wieder so sein wie früher. Der Junge hatte begonnen, erwachsen zu werden und sich von seinen Eltern abzulösen. Auch wenn er ihnen am Abend gehorsam nach Nazareth folgte. Der Junge hieß Jesus. Seine Geschichte wird im zweiten Kapitel des Lukasevangeliums erzählt.

von Dr. Sven Keppler, Pfarrer in Versmold