Andacht vom 25. August 2019

Wort zum 10. Sonntag nach Trinitatis, 25. August 2019

„Welches ist das höchste Gebot?“ fragt ein jüdischer Schriftgelehrter Jesus. Und der antwortet: „Höre Israel, der Herr unser Gott ist der Herr allein, und du sollst den Herrn deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüt und mit all deiner Kraft. Das andere ist dies: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“. Der Schriftgelehrte stimmt ihm zu. Beide sind sich einig.
Vor dem Hintergrund der jüdisch-christlichen Geschichte und ihrer theologischen Deutung ist diese Gemeinsamkeit in der Gottesfrage und der Ethik wichtig. Man muss sich klarmachen: wir kommen aus einer Tradition, in der das Judentum oft als Negativfolie benutzt wurde, um das Christliche und angeblich Humanere im Wirken Jesu hervorzuheben. Diese Tradition wirkt bis heute nach.  Etwa darin, dass in der Auslegung der Bibel die Pharisäer fast immer die schlechteren Karten haben. Sie kommen im NT oft als diejenigen zu stehen, die Jesus nach dem Leben trachten, die das Sabbatgebot wichtiger finden als den Wunsch nach Krankenheilung. Die Gehorsam gegen-über Gottes Gebot höher achten als humanitäre Anliegen.
Judentum als Negativfolie des Christlichen ist bis heute auch darin wirksam, wie Christen das AT lesen. Das geht hin bis zu Debatten darüber, ob das AT überhaupt noch Bestandteil der christlichen Bibel sein sollte. Weil doch der Gott, von dem dort die Rede ist, so ganz anders sei als der Gott Jesu im NT. Das AT handle von einem  oft grausamen Gott, von Gewalt und einem Glauben, der vor allem Gehorsam fordere und nicht die Freiheit eines Christenmenschen.
Es gibt eine Menge christlicher Vorbehalte gegenüber dem jüdischen Teil unserer Bibel und einen latenten und manchmal offenen christlichen Antisemitismus. Vor diesem Hintergrund setzt der respektvolle Dialog zwischen Jesus und dem Schriftgelehrten einen wohltuend anderen Akzent.  Spürbar ist dieser neue Akzent gelegentlich auch in den politischen Debatten der Gegenwart. Wenn von der kulturellen Prägung Europas bzw. Deutschlands die Rede ist, dann wird seit gut 10 Jahren bewusst von der „jüdisch-christlichen“ Tradition  gesprochen und nicht mehr nur von der christlichen.  Auch die Diakonie legt inzwischen Wert  darauf zu betonen, dass ihre Wurzeln weiter reichen als bis zum barmherzigen Samariter im Neuen Testament, sondern schon im alttestamentlichen Gebot der Nächsten- und Fremdenliebe ihren Anfang haben. Wir sind also dabei, sowohl kulturell als auch kirchlich unsere jüdischen Wurzeln neu zu beden-ken, um aus antijüdischen Ressentiments herauszukommen. Jesus und der Schriftgelehrte haben hier einen wichtigen und versöhn-lichen Anfang gesetzt. Der 10.Sonntag nach Trinitatis erinnert daran.

Hans Schmidt lebt als Pfarrer im Ruhestand in Halle.