Wort zum Karfreitag, 10. April 2020

Es ist eine unscheinbare, schnelle Kohleskizze, die Ernst Barlach in der Verzweiflung eines Kriegsabends des Jahres 1917 aufs Papier wirft. Sie zeigt einen diagonal ins Bild gefesselten Gekreuzigten, viel zu groß für das Papier. Der Bildrand bricht ihm Arme und Beine ab und erspart dem Betrachter die durchbohrten Füße und Hände. Der Körper wird nur von zwei Strichen festgehalten, der Kopf stößt sich am Himmel. Unter der tief in die Stirn gedrückten Dornenkrone geht ein gequälter Blick ins Nichts.
Die wenigen Striche erzeugen eine eigenartige Schwerelosigkeit. Der durchsichtige, fast unwirkliche Körper scheint an einen fernen, verschlossenen Himmel genagelt zu sein.

Über dieses Blatt und ein Gespräch gibt es Notizen des Künstlers aus dem gleichen Jahr. Klaus, der Sohn, fragt darin den Vater angesichts der Zeichnung: „Er hängt nach vorn über, ist das Kreuz abgebrochen?“
„Sieht es nicht eher so aus, als ob er schwebt?“ fragt der Vater zurück.
„Das nicht“, antwortet Klaus, „er fliegt...“
„Ja“, sagt der Vater, „und mit der Neigung nach vorn wird die Haltung drohend und sein Gesicht sieht aus, als wäre das Leiden sein natürlicher Zustand. Als litte er und wüsste es nicht anders. Und er und sein Kreuz fliegen über alles hin... Wäre ich nicht so müde gewesen, hätte ich das Kreuz gerade gestellt, denke ich, und vielleicht noch für den Jammer der Angehörigen Platz gehabt. Aber weil ich müde war, kam es so, nämlich über den Text hinaus. Ich kann mir vorstellen, dass Christus am Kreuz hängt und im Angesicht der Erde fliegt und leiden muss, solange die Menschen bleiben, wie sie sind. Er wartet in seiner Pein, bis seine lieben Christen sich entschließen, ihn, ihren Erlöser, ihrerseits zu erlösen, indem sie anders werden als sie sind.“

Dieses kleine Gespräch dokumentiert kostbare Theologie von außen. Wie kann sich im Gesicht eines so gequälten und gepeinigten Menschen noch der Glaube an einen barmherzigen Gott halten? Wer kann angesichts eines mit irdischer Endgültigkeit ans Kreuz genagelten Gottes noch an ein ewiges Leben glauben? Vom Gaskrieg zerrissene Lungen, unzählige amputierte Glieder, in Drahtverhauen verblutende Soldaten, so zeigte sich das Golgatha des Jahres 1917. Das schrie nach Raum unter dem Kreuz auf dem viel zu kleinen Skizzenblatt des Malers. Das schrie nach Erlösung, auch nach Erlösung des Gottessohnes selbst. Wer leidet, ist immer im Zustand des Wartens. Solange auf dieser Welt gelitten wird, gilt, was die russische Liturgie immer aufs Neue einübt: „Jeder Mensch, der einem andern hilft, ist Gethsemane, jeder, der einen andern tröstet, ist Christi Mund.“
Der Gedanke, dass Christus erlöst wird, wenn wenigstens wir Christen uns ändern, brachte mir das geheimnisvoll doppeldeutige Wort „erhöht“ vom Himmel auf die Erde zurück. Ein Glaube, der unter dem Kreuz nicht zu sich selbst und zum Nächsten findet, verfehlt Gott.
„Nicht unter dem Kreuz, sondern am Kreuz hat der Glaube seinen Ort“, sagt Martin Luther. Und, in schroffer Eindeutigkeit, als hätte er die Skizze gesehen: „Der Glaube hängt zwischen Himmel und Erde. Wie Christus wird er, in der Luft hängend, gekreuzigt.“ Für den Glaubenden gibt es kein Leid, das fremdes Leid ist, auch keinen fremden Tod. Andererseits wird Christus erlöst, wenn wir uns erlösen lassen, er wird befreit, wenn wir uns befreien lassen. Der Menschensohn wird „erhöht“, wo wir dem erniedrigten Gott nicht aus dem Weg gehen, sondern ihm begegnen in den vergessenen, gedemütigten, nach Erlösung und Würde dürstenden Menschen. Unser Glaube muss das Kreuz und  das Wüten der Welt aushalten, immer zwischen Himmel und Erde.

Von Matthias Storck, Pfarrer in Halle