Ein erhabenes Gefühl
Ein Abend im Gebirge. Ein Gewitter zieht sich zusammen. Wir haben die schützende Unterkunft rechtzeitig erreicht. Da bricht das Unwetter los. Sturm kommt auf. Der Himmel wird schwarzgrün. Blitze zucken. Der Donner schlägt gewaltig und rückt dem Blitz immer näher. Ich bin in Sicherheit. Stehe am Fenster, trocken und warm. Und erlebe begeistert die Gewalt der Natur. Ein erhabenes Gefühl!
Für erhabene Gefühle braucht es zweierlei: einen Gegenstand zum Fürchten und die eigene Sicherheit. Immanuel Kant hat das in seiner „Kritik der Urteilskraft“ überzeugend untersucht. Ohne die eigene Sicherheit beherrscht mich eine brutale Furcht. Wenn ich jedoch das Überwältigende erleben kann, während ich mich geborgen weiß, dann empfinde ich seine erhabene Größe.
Am Fernseher funktioniert das Ganze nicht so richtig. In einem Spielfilm kann ich ein wildes Gewitter sehen. Und es lässt mich trotzdem kalt. Vielleicht weil das Gefühl der Sicherheit zu groß ist: Ich stehe nicht an der Fensterscheibe im Gebirge, sondern sitze vor der Mattscheibe. Vielleicht ist das Ereignis aber auch einfach nicht gewaltig genug: Ich erlebe kein echtes Unwetter. Sondern nur ein elektronisches Gerät, in dem unzählig viele Bildpunkte aufleuchten und mir ein Gewitter vorspielen.
So ist das, glaube ich, auch mit Gott. Ich kann seine Erhabenheit empfinden, wenn ich mich ihm aussetze. Seiner überwältigenden Größe. Seiner Schöpfermacht. Seiner unendlichen Überlegenheit über mich kleines Menschenwesen. Ich kann seine gewaltige Macht als erhaben empfinden, weil ich vertrauen darf: Mein Schöpfer meint es gut mit mir. In seinen Augen bin ich gerettet und gerecht. In Sicherheit.
Wenn Gott für mich aber nur ein harmloser lieber Kuschelgott ist, empfinde ich keine Spur von seiner Erhabenheit. Er ist dann wie ein harmloses Gewitter im Fernsehen. Wir sollten aus Gott keinen Pantoffelhelden machen. Für einen erhabenen, erhebenden Glauben braucht es auch die Erinnerung an Gottes überwältigende Macht.
Pfarrer Dr. Sven Keppler, Versmold