Tagesbericht: Donnerstag, 25. Juli 2019
Wir wachen nach und nach im niedrig temperierten Bus auf. Der Dauerregen verhindert, dass wir den Sonnenaufgang und die stark veränderte Landschaft genießen können. Zusätzlich sorgt er dafür, dass der ohnehin verspätete Bus annähernd pünktlich in Retiro einfahren kann. Um 11.30 Uhr kommt der Bus schließlich an. Kaum im Hotel, treffen wir um 12 Uhr Pfarrer Jorge Weißheim und Pamela, eine diakonische Mitarbeiterin. Wir bekommen eine kurze Einweisung über Verhaltensregeln im Straßenverkehr und die Übersicht über den heutigen Tagesablauf. Um 13 Uhr starten wir nach Florencia Varela. Das liegt im Süden von Buenos Aires und hat aktuell fast 480.000 Einwohner, über 50 Prozent davon sind arbeitslos. Die Jugend ist besonders betroffen. Wir werden das Projekt kennen lernen, das den Leuten, die kein warmes und liebevolles Zuhause haben, eins sein möchte: La Casona (das große Haus).
Pamela erzählt, dass sie seit einer Woche für ein staatliches Projekt (Enia) arbeitet. Darin kümmert sie sich um Frauen/junge Mädchen, die ungewollt schwanger wurden. 19 Prozent der jungen Frauen ab 13 oder 14 Jahren sind in diesem Viertel davon betroffen. Dafür gibt es verschiedene Gründe.
• Die Wirtschaftspolitik der jetzigen Regierung erzeugt immer mehr Armut.
• Obwohl sich die Subventionen, Unterstützung der Armen, sich verdoppelt haben, reicht es immer noch nicht.
• Die Verschuldung der Regierung ist enorm gestiegen.
• Multinationale Konzerne beherrschen die Wirtschaft – z.B. Monsanto. Diese Konzerne greifen mit ihren Geldern in die Politik ein.
Nach einer fast einstündigen Fahrt mit der gerade modernisierten Subte (U-Bahn) und einem durchaus mit unseren Nahverkehrszügen vergleichbarem Zug kommen wir nach ca. 45 Minuten in Florencio Varela an. Wir werden über einen Schwarzmarkt geführt, der in den vergangenen drei Jahren förmlich explodiert ist. Danach gehen wir in ein Wohnviertel mit Sozialbauten, in dem die Kinder und Jugendlichen wohnen, die von der Casona betreut werden. Uns werden der Bau und die Vermietung von sozialen Wohnungen aus nächster Nähe erklärt.
Als wir die Casona betreten, stellt sich der Leiter des Projektes vor: Martín Elsesser. Martín hat seine Arbeit in der Kirche offiziell gekündigt, weil er nicht bezahlt werden kann. Er arbeitet jetzt im nationalen Programm der Drogenberatung. In seiner Freizeit koordiniert er – ähnlich wie Pamela – die diakonische Arbeit Wir bekommen eine Führung durch das Haus, treffen uns dann im Kirchsaal mit Jugendlichen im Alter von 15 bis 25. Martín initiiert eine Kennlernübung: sowohl die deutsche als auch die spanische Gruppe sollen pantomimisch darstellen, wie sie Jugend in ihrem Land beschreiben würde:
• Deutschland: lernen, Sport, Fotos, aufs Handy schauen, Musik machen, zusammen spielen, lesen, chillen
• Argentinien: Mate trinken, Fußball, fotografieren, lernen, reden, singen
Prinzipiell sind die Unterschiede gar nicht so groß.
Im weiteren Verlauf stellen die beiden Gruppen der jeweils anderen Fragen zum Oberthema: Was möchte ich von den anderen wissen?
• Die Argentinier fragen: Ist es schwierig für Jugendliche in Deutschland Arbeit zu bekommen? Die argentinischen Jugendlichen fragen dies, weil unter ihnen die Arbeitslosenquote in Argentinien sehr hoch ist und es an Arbeit fehlt.
Antwort: Es ist nicht schwierig, eine Arbeit oder einen Ausbildungsplatz zu finden. In vielen Branchen herrscht derzeit sogar ein Fachkräftemangel.
• Wir wollen wissen, welche Musik die Jugendlichen in Argentinien hören. Als Antwort zeigen die argentinischen Jugendlichen uns auf YouTube Lieder, Interpreten oder Musikrichtungen: Cumbia, reguetón, cuarteto, …
• Eine weitere Frage unsererseits an die Argentinier*innen ist – in Anlehnung an die inhaltliche Erarbeitung in Eldorado und Posadas: Wie nutzt ihr die sozialen Netzwerke?
Antwort: Die argentinischen Jugendlichen nutzen sie sehr viel: Facebook, Twitter, WhatsApp, Instagram. Sie publizieren Blödsinn, um Aufmerksamkeit zu bekommen, aber auch Politisches, um etwas zu erreichen.
• Zwei weitere Frage der Argentinier an uns:
Was hat euch am besten auf eurer Reise gefallen?
Unsere Antwort: Das Teilen.
• Was war am Schlimmsten?
Unsere Antwort: Das Wetter und der Müll auf den Straßen.
Martín fragt am Ende zusammenfassend: Welche Unterschiede habt ihr festgestellt?
Antwort: Insgesamt gibt es nicht so viele Unterschiede. Dennoch fällt auf, dass es in Deutschland weniger Umarmung gibt, in Argentinien der Ablauf weniger getaktet ist. Hier wird oft spontan organisiert und es wird mehr geteilt.
Uns wird ein Video aus dem Workshop der Casona gezeigt. Die Jugend hat sich mit dem Thema der Geschlechtererziehung beschäftigt, weil es in den vergangenen Jahren vermehrt zu Vergewaltigungen, Verletzungen, Entführungen und zum Verkauf von jungen Mädchen gekommen ist. Der Film soll ein Aufschrei sein und das Thema in die Öffentlichkeit tragen. Den Workshop "Videos drehen" gibt es seit 2005. Inzwischen sind daraus zwei Gruppen entstanden.
Die Jugend aus dem Kirchenkreis Halle wird gefragt, wie sie sich in der Gemeinde einbringen. Auch interessiert es die argentinischen Jugendlichen, welche Sorgen und Probleme die Jugend in Deutschland hat: In Deutschland ist der Klimawandel aktuell ein großes Thema. Es wird aber auch deutlich, dass die deutschen Jugendlichen sehr stark unter Leistungsdruck in Schule, Familie und Gesellschaft stehen und das oft zu psychischen Problemen führt.
In Argentinien leiden die Jugendlichen darunter, dass sie oft trotz guter Ausbildung keine Arbeit haben, z.B. ein Architekt als Taxifahrer arbeiten muss. Ein weiteres Thema ist die Unsicherheit auf den Straßen.
Wir fragen nach den Wandbildern und welche Bedeutung sie haben. Uns ist das Portrait von Arturo Blatetzky besonders aufgefallen. Er hat den Kirchenkreis Halle schon oft besucht und dort bereits einige Male gepredigt. Weitere Bilder stellen verschiedene Dinge dar: die Hyperinflation in den 1980er Jahren , eine Bürgerversammlung und wie das Projekt Casona entstanden ist.
Des weiteren fragt Martín unsere Gruppe: Was wir in unseren vergangenen Tagen gelernt haben. Eine Antwort betont, was uns besonders gefallen hat: das Teilen. Aber wir haben auch gelernt, dass wir nicht immer perfekt strukturiert sein müssen, um zum Beispiel einen schönen Gottesdienst oder eine schöne Andacht zu gestalten.
Nach einem gemeinsamen Abschluss haben Erica Arning und Matthias Jörke eine Spende des Kirchenkreises überreicht. Unsere Jugendlichen konnten die argentinischen mit Buntstiften, aber vor allem mit Süßigkeiten sehr glücklich machen.
Nach dem gemeinsamen, bilingualen Vaterunser haben wir uns wieder auf den Weg zurück nach Buenos Aires gemacht. Im Hotel kurz frischgemacht haben wir uns ein kleines Restaurant um die Ecke gesucht, in der wir gemeinsam zu Abend gegessen haben. Anschließend sind wir müde ins Bett gefallen sind.
Erica Arning/Matthias Jörke