Diese Treffen zeichnen sich durch einen regen Informationsaustausch, aber auch durch kontroverse und konstruktive Diskussionen aus. So führte gleich der erste Vortrag des Soziologen Professor Dr. Jens Köhrsen (Basel) zu einem lebhaften Austausch über seine Thesen.
Jens Köhrsen blickte auf die Situation des „historischen Protestantismus“ in Argentinien aus der Perspektive des Marktanalytikers und betrachtete so ein bekanntes Problem aus einer neuen Perspektive. Zwar sind etwa 20 Prozent der argentinischen Bevölkerung evangelisch, aber nur ein Drittel davon gehört einer historischen evangelischen Kirche an. Dagegen ist die jüngere Pfingstlerbewegung dort sehr stark. Diese Kirche verspreche ihren Mitgliedern, so der Professor, das Heil im hier und jetzt, z.B. durch Heilung von Drogensucht, Alkoholismus und Armut. Da sie eine radikale Ethik predige und eine sehr enge Gemeinschaft ermögliche, gelinge es vielen tatsächlich, sich von einer Sucht zu befreien. Damit gehe es ihnen finanziell besser, denn die Droge müsse nicht mehr bezahlt werden. Außerdem verfüge sie über Pfarrer, die aus derselben Schicht der Mitglieder kämen und „deshalb dieselbe Sprache sprechen.“
Die historische protestantische Kirche dagegen kämpfe mit Mitgliederschwund. Sie unterliege ähnlichen demografischen Entwicklungen wie die beiden großen deutsche Kirchen: Es würden weniger Kinder geboren, aber es kämen auch kaum noch protestantische Auswanderer dorthin.
An diesem Punkt schloss sich der Impuls von Oberkirchenrätin Petra Wallmann aus dem Landeskirchenamt in Bielefeld nahtlos an. Unter der Frage „2030 – wie sieht es dann in unserer Kirche aus?“ präsentierte sie zunächst Fakten: Bis 2030, so die Prognose, wird die Evangelische Kirche von Westfalen 20 Prozent ihrer Mitglieder verloren haben. Dann wird die Pfarrerschaft in Westfalen noch rund 780 Köpfe zählen, zurzeit sind es 1.862. Das werde nicht nur Auswirkungen auf Gemeindegrößen haben, sondern auch dazu führen, dass Kirche und Diakonie viele Aufgaben in der Gesellschaft nicht mehr übernehmen können.
Um die Lücken zu schließen, denkt sie an mehr Verständigung und Zusammenarbeit mit der katholischen Schwesterkirche, z.B. über einen gemeinsamen Religionsunterricht an Schulen. Er biete die Möglichkeit, junge Menschen über viele Jahre kontinuierlich zu begleiten.
Ihrer Meinung nach solle eine Frage die Überlegungen für die Zukunft der Kirche leiten: Wie und wo kommen Menschen mit Kirche in Kontakt? Heute geschehe das einerseits dann, wenn Menschen Angebote von Kirche – Taufen, Trauungen, Beerdigungen, Seelsorge – nutzen, aber auch im Religionsunterricht, durch Morgenandachten im Radio oder Fernsehgottesdienste. Diese Angebote, so fürchtet Wallmann, würden aber wegfallen, wenn die gesellschaftliche Relevanz von Kirche weiter sinke. Um das zu verhindern, „werden wir unsere Gemeinden öffnen müssen für Menschen anderer Sprachen und Herkunft“, ist ein weiterer Lösungsansatz. Eine Strukturveränderung hin zu einer Freiwilligkeitskirche könne auch eine Lösung sein. Auf Anfrage erläuterte Wallmann, eine solche Veränderung könne nur langfristig und von der Basis initiiert erfolgen.
Carlos Duarte berichtete in seinem Vortrag über tiefgreifende Strukturveränderungen in der evangelischen Kirche, deren Kirchenpräsident er ist. Sein Rückblick auf die Jahre 1972 bis 1992 erschien wie ein Ausblick auf die kommende Situation der westfälischen Landeskirche. 1899 gegründet, gab es bis in die 1940er Jahre so genannte Reisepfarrer, die sporadisch für Gottesdienste und zu kirchlichen Amtshandlungen wie Beerdigungen oder Trauungen in die Gemeinden kamen. Danach wuchs die Zahl der Gemeinden und es wurde deutlich, dass Pfarrer kontinuierlich anwesend sein mussten. Die große Präsenz führte zur Entstehung von Gemeindegruppen für z.B. Jugendliche und Frauen, religiöse Erziehung und die Arbeit mit Kindern. Von 1952 bis 192 wuchs die Zahl der Gemeinen von 16 auf 38, die der Pfarrer von 21 auf 76. Während allerdings die Zahl der Gemeinden bis 2012 auf 47 weiter anstieg, ging die Zahl der Pfarrer zurück auf 55.
Duarte fragte nicht nur nach äußeren Einflüssen, die Gemeinden in der IERP wachsen oder schrumpfen lassen, sondern nach dem Ziel von Kirche generell. „Für viele, auch in den protestantischen Kirchen, scheint die Tatsache, dass die Kirchengebäude voll sind und Massen zusammenströmen, wichtiger zu sein als die Treue zum Evangelium oder die Sachbezogenheit dessen, was von der Kanzel gepredigt wird“, stellte er fest und kam zu dem Schluss, dass die Botschaft der Kirche wichtig ist und auf die Länder zugeschnitten sein müsse, in der sie lebe. Er forderte daher dazu auf, die gesellschaftlichen, sozialen, kulturellen und technischen Veränderungen als Chance zu begreifen, „die Gott uns gibt, damit unsere Kirchen einmal mehr Luthers Satz verwirklichen: Semper reformanda (= ständige Reformation).“
Unter der Moderation von Kirsten Potz, die das Freiwilligenprogramm der beiden Kirchen begleitet, kamen am ersten Abend und am Ende der Veranstaltung junge Argentinier und Deutsche zu Wort, die in Werther, Versmold, Gelsenkirchen, Iserlohn und Altena ein freiwilliges soziales Jahr leisten. Sie wünschen sich in ihren Heimatgemeinden mehr Vorbilder und eine bessere und intensivere Begleitung ins Leben. Sie fragten, „Wem sollen wir unsere Wünsche und Zweifel sagen?“ Und sie forderten mehr Möglichkeiten ein, an Entscheidungsprozessen teilzunehmen und Zukunft mitzugestalten. (fra)