HALLE – Gut zwei Wochen mit musikalischen Veranstaltungen der Extraklasse liegen hinter den Zuhörern der 56. Haller Bach-Tage. KMD Martin Rieker, der bereits zum 31. Mal als künstlerischer Leiter fungierte, hatte hochkarätige Künstlerinnen und Künstler eingeladen, die ein vielseitiges Programm an unterschiedlichen Veranstaltungsorten darboten. Für den Kirchenmusikdirektor war es das letzte Klassikfestival, denn am 31. März wird er in den wohlverdienten Ruhestand verabschiedet.
„Mit diesem festlichen Stück sind die Haller Bach-Tage eröffnet!“ rief Martin Rieker den Zuhörern in der vollbesetzten St. Johanniskirche zu. Vorausgegangen war im Eröffnungskonzert sein Orgelspiel Concerto C-Dur aus der Kantate BWV 148 (Bringet dem Herrn Ehre seines Namens) von J. S. Bach. Begleitet wurde er von einem Musiker, der in Halle geboren wurde und „aus dem etwas Herausragendes mit Musik geworden ist“ (Zitat Martin Rieker): Rupprecht Drees, mit höchsten Auszeichnungen versehener Solo-Trompeter der Staatskapelle Weimar. Gemeinsam brachten sie an diesem Abend im Wechsel Werke barocker und neuer Meister wie die Sonata IV C-Dur von Heinrich Ignaz Franz Biber oder ‚Mr Handels celebrated Water Piece‘ C-Dur von G. Fr. Händel zu Gehör. Rupprecht Drees spielte auf einer Barocktrompete, deren Rohrlänge doppelt so lang wie die der heutigen Trompete ist und für einen obertonreicheren Klang sorgt. Das Instrument sei zwar eine Kopie und erst vier Jahre alt, aber exakt dem nachempfunden, mit dem zu Bachs Zeiten musiziert wurde. Orgelwerke wie das Halleluja Praeludium aus ‚Das Buch mit sieben Siegeln‘ von Franz Schmidt oder das Praeludium und Fuge d-Moll von Max Reger rundeten das Programm ab. Das Publikum dankte mit langanhaltendem Applaus – dafür gab es eine Zugabe.
Am nächsten Tag wartete der nächste Höhepunkt mit der ‚Soirée Balkanisch‘ im Storck Treffpunkt auf 550 Zuhörer. Mit dem rumänischen Geiger Nemanja Radulović (33), dem österreichischen Klarinettisten Andreas Ottensamer (29), der französischen Pianistin Laure Favre-Kahn (42) sowie der lettischen Akkordeonistin Ksenija Sidorova (30) konnten sie gleich vier junge Stars in einem spektakulären Programm genießen. Ob als Solisten, Duo, Trio oder Quartett – das Publikum wurde mit Béla Bartoks schwungvollen ‚Romanian Folk Dances‘ genauso verzaubert wie mit Maurice Ravels ‚Tzigane‘. Unglaublich, welche Töne der serbische Geiger seinem Instrument zu entlocken vermochte. Mit diesem Feuerwerk der Klänge und Farben wollte man auch einem jüngeren Publikum die Möglichkeit geben, mit Spaß und Freude an die klassische Musik herangeführt zu werden. Die sympathischen Künstler wurden mit langanhaltendem Applaus belohnt – und natürlich gab es auch hier die damit eingeforderte Zugabe.
Wie vielfältig sich das Programm der Haller Bach-Tage zeigt, war bereits am nächsten Tag zu spüren: beim Chorkonzert I hielt mit der Johannes-Passion (BWV 245) eines der bedeutendsten Werke der Musikgeschichte und damit Bach pur Einzug in die St. Johanniskirche. Martin Rieker bezeichnete sie als die schönste Musik der Welt. Den Abend widmete er seinem Freund Martin Hoffmann, KMD in Paderborn, der unerwartet mit 61 Jahren verstorben war. Unter der Gesamtleitung Riekers übernahmen das Chorensemble der Johanniskantorei, die Solisten Tanya Aspelmeier (Sopran), Anne-Beke Sontag (Alt), Knut Schoch (Tenor) und Konstantin Heintel (Bass) sowie das Ensemble Aperto die musikalische Gestaltung. Sie nahmen die Zuhörer zwei Stunden mit auf den Leidensweg Jesu. Fünf verschiedene Orte und Ereignisse dieses Geschehens wurden fünf Akte in der Passion zugeordnet. Der frenetische Applaus und standing ovations war allen Mitwirkenden sicher. Im Anschluss dankten Annette Kurschus, Präses der evangelischen Kirche von Westfalen, und die Regierungspräsidentin des Regierungsbezirkes Detmold, Marianne Thomann-Stahl, Martin Rieker für seine 31-jährige Leitung des Klassik-Festivals mit Worten und Geschenken. „Martin Luther sagt über die Musik, sie sei eine Gabe und Geschenk Gottes. Wir sagen Ihnen herzlichen Dank für dieses Geschenk, sie haben die Haller Bach-Tage meisterlich geführt und geprägt.“
Beim Kinderkonzert in der Aula des Kreisgymnasiums ging es tierisch zu. Das Blechbläserquintett BRASSerie klärte 520 Kinder im Alter von sechs bis elf Jahren über die wahre Geschichte der Bremer Stadtmusikanten auf. Denn mit „Wie es wirklich war“ präsentierten sie ein musikalisches Märchen, bei dem ihrer Meinung nach die Gebrüder Grimm etwas übersehen haben. Nicht nur Esel, Hund, Katze und Hahn machen sich auf den Weg nach Bremen, auch eine kleine Hummel war dabei. Unterschiedliche Stilrichtungen brachten die erstklassigen Musiker meisterlich zu Gehör. Hund Bob aus Jamaika (Björn Bein/Trompete) wartete mit Reggae auf, Katze Donald aus Amerika (Manuel Viehmann/Trompete) mit Jazz vom Feinsten, der französische Hahn (Konstantin Päßler/Posaune) stimmte gemeinsam mit den Kindern den Kanon „Der Hahn, der lebt, der Hahn, der lebt…“ an und die Hummel (Karl Berkel/Tuba) begrüßte mit „Moin, moin“ die jungen Zuhörer und begeisterte anschließend mit dem „Hummelflug“. Der Esel (Matthias Berkel/Horn) übernahm die Erzählerrolle. Diese unglaubliche Vielfalt der Musik, zu der auch Chansons, Barockmusik und Opernmelodien gehörten, wurde von BRASSerie selbst arrangiert. Am Ende des Konzertes fühlten sich alle Anwesenden in der Aula wie in Pharrell Williams gute Laune-Lied, das die Musiker als Zugabe spielten: „Happy“.
Erstmals in Halle zur Aufführung kamen die Klavierkonzerte von J. S. Bach im Orchesterkonzert I. Das Ensemble Aperto – die diesmal mit modernen Instrumenten spielten – sowie Pianist Yorck Kronenberg als Solist boten unter der Leitung von Martin Rieker in der St. Johanniskirche einen umwerfenden Hörgenuss. Schon vorher stellte der Kirchenmusikdirektor klar: „Diese Musik ist einfach schön, sie bewirkt, dass man nachts nicht schlafen kann!“ Die sechs Konzerte wurden aufgeteilt in zwei Aufführungen an verschiedenen Abenden: Konzerte für Klavier und Orchester d-Moll BWV 1052, A-Dur BWV 1055 und f-Moll BWV 1056 am ersten Abend sowie E-Dur BWV 1053, g-Moll BWV 1058 und D-Dur BWV 1054 am zweiten. Der in Reutlingen geborene Pianist Yorck Kronenberg – er ist auch erfolgreicher Schriftsteller – ist in Halle kein Unbekannter, denn bereits in den vergangenen Jahren bereicherte er das Klassik-Festival. Seine instrumentenspezifische Virtuosität begeisterte damals wie heute. Zwischen den einzelnen Klavierkonzerten gab es kurze Intermezzi – in der ersten Aufführung vom Ensemble Aperto, in der zweiten von Sopranistin Anna-Lena Schuppe, die von ihrem Mann Georg Schuppe am Continuo (Cembalo) begleitet wurde.
Den Abschluss der diesjährigen Haller Bach-Tage bildete im Chorkonzert II die h-Moll-Messe von Johann Sebastian Bach. Sie gilt als eine der bedeutendsten geistlichen Kompositionen und ist das letzte große Vokalwerk des Musikers, außerdem seine einzige Komposition, der das vollständige Ordinarium des lateinischen Messetextes zugrunde liegt. Die achtzehn Chorsätze und neun Arien wurden unter der Leitung von KMD Martin Rieker von knapp 100 Mitgliedern des Bach-Chores der Johanniskantorei Halle sowie dem Ensemble Aperto ausgeführt. Solisten der Messe waren Cornelie Isenbürger (Sopran), Yvi Jänicke (Alt), Tilman Lichdi (Tenor) und Jens Hamann (Bass). Sie alle begeisterten mehr als zwei Stunden die Zuhörer in der voll besetzten St. Johanniskirche. Für das dreiteilige Kyrie, das in neun Sätzen unterteilte und mit Trompeten und Pauken erklingende Gloria, das mit einer abwechslungsreichen Abfolge von Chorsätzen, Duetten und Solo-Arie bestückte Credo, dem ältesten und einem der Höhepunkte des gesamten Werkes – das Sanctus – sowie der Bitte um Frieden, „Dona nobis pacem“, dem Schlusssatz der Messe im Agnus Dei, erhielten alle Ausführenden minutenlangen Applaus und standing ovations.
Zu Ende war der Abend damit noch nicht. Superintendent Walter Hempelmann, Vorsitzender des Kuratoriums der Haller Bach-Tage, ließ es sich nicht nehmen, zum Ende des Klassik-Festivals dem Mann zu danken, der das alles über eine lange Zeit möglich gemacht hat: „Martin, danke für dein Tun und dein Schaffen! Du hast in 31 Jahren deine Kontinuität eingebracht.“ Eine große Tafel Schokolade mit dem Konterfei aller Chormitglieder überreichte Hempelmann mit den Worten: „Was wäre ein Kantor ohne seinen Chor?“, dankte ebenfalls den SängerInnen für das Dienen in der Kirchengemeinde und fügte hinzu: „Bei allem Dank an die Solisten sollten wir jedoch eins nicht vergessen: Soli Deo Gloria – Gott allein die Ehre.“ Halles Bürgermeisterin Anne Rodenbrock-Wesselmann schloss sich den Worten ihres Vorredners an und sagte in Anlehnung an das Haller Bach-Tage-Motto: „Wir lassen ihn gehen – in Gottes Namen.“
Komplettiert wurde das vielseitige Programm mit einem Nachtkonzert in der katholischen Herz-Jesu-Kirche. „Bach all’italiano“, Konzerttranskriptionen nach Antonio Vivaldi und Benedetto Marcello von J. S. Bach in neuem Gewand, brachte Blockflötist Simon Borutzki mit seinem Ensemble zu Gehör. Mit Musik des Frühbarock von Böddecker, Scheid und Schütz unter dem Titel „Dies ist der Tag, den der Herr macht“ beschäftigten sich fünf Spezialisten der so genannten Alte-Musik-Szene, das Ensemble „I Sonatori“, in der St. Johanniskirche im Barockkonzert. Eine Premiere gab es im Festgottesdienst: KMD Martin Rieker leitete nicht nur Chor, Orchester und Solisten sicher durch Mozarts „Krönungsmesse“, er hielt auch die Predigt (UK berichtete). In der sich daran anschließenden Matinee überzeugten die ebenfalls in der Lindenstadt bekannten vier Musikerinnen des Ligna-Quartetts mit den von Mozart bearbeiteten Praeludien und Fugen aus dem ‚Wohltemparierten Klavier‘ von J. S. Bach sowie Musik von Arvo Pärt und Franz Schubert.
Die h-Moll-Messe wurde einen Tag nach der Aufführung in der Lindenstadt nochmals gespielt – in der Bielefelder Nicolaikirche. Das Gotteshaus ist die neue Wirkungsstätte Riekers. „Ich bin kein Strandlieger. Wenn ich im April in Pension bin, werde ich hier oft an den Beckerath-Orgeln zu hören sein. In Halle wird es weiterhin wunderbare Musik geben“, verwies er auf seinen Nachfolger Friedemann Engelbert und schloss mit einem Blick auf seine Dirigate: „Ich habe mich immer über die Menschen gefreut, die hinter mir stehen und genießen können. Vielen Dank.“ (-dag-)