HALLE – „Gestern war ein Kranwagen vor dem Haus. Er hat meinen Flügel aus der Wohnung gehoben. Der steht in Zukunft in der Altstädter Gemeinde in Bielefeld“, erzählt Martin Rieker, wie sich seine Haller Welt gerade auflöst. Erstaunlicherweise ist es nicht Wehmut, angesichts der aktuell vielen Trennungen von Menschen und Dingen, die den Leiter der Haller Bach-Tage gerade umtreibt. „Es fühlt sich zu allererst befreiend an“, erzählt der Vollblutmusiker offen, wovon er sich gerade trennt. Der fast Ruheständler erzählt lieber von den neuen Aufgaben, die auf ihn warten und von einem neuen Zuhause, in dem er sich bestimmt behaglicher fühlen wird, als in fast 150 Quadratmetern in der Gartenstraße, die er zuletzt allein bewohnte.
„Gerade sortiere ich Bibeln, Gesangbücher, Noten und Mystik-Bücher“, so lässt sich auch in solchen Bereichen, die immer ganz eng mit seinem Berufsfeld verbunden waren, vieles loslassen. Wer kommt und sagt: „ Ach, das hätte ich gerne“, wird reich beschenkt. „Ich lerne mich gerade ganz neu kennen und fühle mich mit jedem Bücherkarton, der die Wohnung verlässt, ein Stück leichter.“
Auf die Frage, wie ein Mann, der sich aus Wien kommend vor 31 Jahren in Halle beworben hat, es all die Jahre in der Provinz ausgehalten habe, schmunzelt Rieker, um dann ganz klar zu antworten: „Mir hat die Musik immer Flügel verliehen. Ich bin voller Musik – sie hat mich immer herausgefordert und gleichzeitig getröstet.“ Eine andere große Kraftquelle seines Lebens beschreibt Martin Rieker in seiner größer werdenden Leidenschaft, der Beschäftigung mit der Mystik. Da war ihm sein Freund Gerhard Wehr, ein Diakon und Buchautor aus Bayern, bis zuletzt ein wichtiges Gegenüber. „Ich habe ihn als Freund sogar auf seinem letzten Weg in die Schweiz begleitet“, leuchtet ein seht besonderer Aspekt seines Charakters – den mancher vielleicht gar nicht sehen konnte – an Rieker auf. „Sie sollten unbedingt in Wehrs Buch 'Nirgends, Geliebte, wird Welt sein als innen' hineinlesen“, verweist Rieker auf Literatur, die ihn wirklich inspiriert.
Allein 15 Mal ist Martin Rieker in die Mönchsenklave auf dem Berg Athos gereist. Ein außerordentlicher Kraft- und Inspirationspunkt an wichtigen Weggabelungen seines Lebens und wenn die große Aufgabe manchmal drohte, zu viel zu werden. Wie intensiv sich der Musiker auch mit tiefsten Schichten seines Glaubens eingelassen hat, davon zeugt seine Predigt, die er im Festgottesdienst anlässlich der 56. Haller Bach-Tage im Februar über seine Lieblingsgeschichte, über den 'brennenden Dornbusch' hielt. „Es sind Momente, die etwas Heiliges ausstrahlen, unser Herz ist erfüllt.“ Wenn Himmel und Erde sich berühren, dann ereignet sich Gottesbegegnung, die zur ganz persönlichen Gotteserfahrung werden darf. Es wundert nicht, dass gerade der kreative Moment, davon Rieker unzählige in seinem Schaffen sammeln durfte, Auslöser für tiefen und persönlich tröstenden Glauben werden durfte.
Am Küchentisch sitzt ein Mann, der mit sich im Reinen ist und sich jungenhaft auf Zukunft freut. Nicht nur auf das kleine Bauernhaus am Bürgerpark in Bielefeld, das sein neues Zuhause sein wird. Ganz besonders leuchten die Augen, wenn er von den Juninos, Junos und dem Jugendchor des Bielefelder Theaters erzählt. Der Generalmusikdirektor Alexander Kalajdzic war es, der im Juni 2018 bei Martin Rieker anrief und ihn unbedingt als Chorleiter für die Nachwuchsarbeit begeistern wollte. Nach ersten Erfahrungen mit der neuen Aufgabe genießt der KMD Rieker die neue Organisationsstruktur. „Die ist ganz anders als in der Kirche. Bisher war ich der Alleinmacher, demnächst bin ich ein Mittler. Ich darf jetzt eine bunte Feder im Theaterrund sein.“ Und dann kommt ein ganz besonderer Satz aus Riekers Mund, völlig überzeugt: „Mich interessieren Menschen, die man ob ihrer Klasse verehren kann.“ Da wird es viele Möglichkeiten in der neuen Umgebung, der Theaterwelt, geben, da ist sich Marin Rieker sicher und freut sich darauf.
Um für alle neuen Aufgaben – neben dem Engagement am Theater wird er in der Altstädter Nicolaikirchengemeinde seine große Orgelvirtuosität einbringen – gut vorbereitet zu sein, will er die Welt der Dinge um ihn herum deutlich verkleinern. Ach ja, und sein Auto behält er eigentlich nur, um seiner Aufgabe als Orgelgutachter in der weiteren Region auch nachkommen zu können.
Seinen leiblichen Kindern schaut er mit großer Freude bei ihren eigenen Lebenswegen zu, gibt mit warmer Hand und hat auch da einen wirklichen guten Rat für Eltern und Großeltern: „Ich lasse sie in Ruhe“, und freut sich natürlich über freiwillige Begegnung und Nachfrage um Rat.
Alle Menschen, die Martin Rieker und seine außerordentlichen Fähigkeiten bisher genießen durften, sei gesagt: Da verlässt ein nach wie vor österreichischer Staatsbürger seinen großen Wirkungskreis nicht, um sich in den Ruhestand zu verabschieden, sondern in großer Vorfreude auf das Neue. Wenn jemand Sehnsucht nach musikalischer Genialität und Klasse hat, sollte man Theaterbesuche planen, bei denen die Jugendchöre mitwirken. Da wird der Genuss der aufblitzenden Qualität und die Essenz aus der Erfahrung mit der Haller Kinder- und Jugendchorarbeit zu hören sein. Und alle die ihn wirklich kennengelernt haben, werden Martin Riekers Handschrift sofort entdecken. (CG)