BROCKHAGEN – „Eine sogenannte 24-Stunden-Kraft, zumeist aus Osteuropa, ermöglicht vielen pflegebedürftigen Menschen ein längeres Verbleiben in der geliebten eigenen Umgebung“, begrüßte Pfarrerin Petra Isringhausen die viele Zuhörerinnen in der St. Georgskirche in Brockhagen zum FrauenTischGespräch. Der Referent Damian Ostermann, Diakon mit Pflegeausbildung und langjähriger Erfahrung in der Teamleitung in der ambulanten Palliativ-Pflege in Bethel, richtete seine durch Praxis und Forschung im Netzwerk „osteuropäische Pflegekräfte“ an der Universität in Nürnberg wache Wahrnehmung auf einen eher problematischen Weg aus der Pflegemisere.
Zu den aktuellen Fakten gehört, dass mittlerweile geschätzt in 700 000.Haushalten in Deutschland osteuropäische Pflegekräfte dafür sorgen, dass „durch Olga Oma nicht ins Heim muss“. Ostermann machte allein an der Tatsache, dass es keinen Namen für diese Menschen gebe – sie heißen Olga, Nadeschda oder Agnes –, welchen Stellenwert sie in der deutschen Gesellschaft haben. Diese „kleine Völkerwanderung“ wurde ausgelöst durch die EU-Arbeitnehmer-Freizügigkeit seit Ende 2011. Bei der Frage von Ostermann ins Publik, wer solche Situationen kenne, gingen etliche Finger nach oben.
Ein ganz wichtiger Grund für diesen „Pflegemarkt“ machte Ostermann im familiären Wandel und im Pflegenotstand aus. Geforderte Mobilität und die zunehmende Berufstätigkeit von Frauen schaffen immer öfter Situationen, in denen „Olga“ als einzige Möglichkeit für die Situation von pflegebedürftigen Familienangehörigen in Frage zu kommen scheint. Dabei ist dieses Segment durch undurchsichtige Anstellungssysteme häufig als Vermittlung von deutsch-osteuropäischen Agenturen, Scheinselbständigkeit oder gleich ganz „schwarz“ angestellt im Haushalt ein von Grautönen gezeichneter Markt. Allein die Bezeichnung „24-Stunden“ verstoße gegen alles, was arbeitsrechtliche Gesetze vorsehen, sei also in hohem Maße „unlauter“, so Ostermann. Die Höchstdauer von Wochenarbeitszeit liegt innerhalb der EU (Europäische Union) bei 45 Stunden und sieht Freizeitausgleich für Sonntagsarbeit sowie Ruhephasen vor.
Ein anderer Werbeaspekt komme hinzu: Kurzfristiges Umtauschrecht bei Schwierigkeiten. Anhand eines Fallbeispiels zeigte Ostermann die komplizierten Interaktionen zwischen offiziellem Pflegedienst – etwa für Medikation, zwei Mal am Tag für wenige Minuten und einer ständigen Begleitung durch Pflegekräfte und engagierte Nachbarschaft im Haushalt einer 93-jährigen Frau auf. Innerhalb von wenigen Monaten waren es drei sehr verschiedene polnische Frauen, auf die die Pflegebedürftige mit demenziellen Beeinträchtigungen sehr verschieden reagierte.
Ein Aspekt, der hier in der Praxis fast ganz aus den Augen gerät, ist die Situation in den Herkunftsländern. In Polen etwa gibt es erste Untersuchungen, wie Kinder und Jugendliche entgleisen, während die Mutter monatelang in Deutschland arbeitet, und die häufig durch andere Familienangehörige mit versorgt werden müssen. Außerdem ist es durch finanzielle Anreize immer öfter so, dass die dortigen Pflegemärkte unter Personalengpässen ächzen, weil in Deutschland mehr Geld verdient werden kann.
Nach einer leckeren Buffet-Pause entspann sich ein intensives und nachdenkliches Gespräch zwischen Damian Ostermann und seinem Publikum über bessere Rahmenbedingungen für diese Pflegekräfte und die Frage wie Diakonie und Kirche sich zu diesen Missständen verhalten könnte. (CG)