HALLE – Für KMD Friedemann Engelbert waren die 57. Haller Bach-Tage die ersten unter seiner künstlerischen Leitung. Als Nachfolger des in den Ruhestand gegangenen, langjährigen KMD Martin Rieker hatte er sich vorgenommen, Gutes zu bewahren und Neues zu entwickeln – beides ist ihm gelungen. Fulminant war bereits der Start.
In der gut besuchten St. Johanniskirche führte Friedemann Engelbert kurz in das diesjährige Thema „Am Anfang“ ein, bevor das Ensemble Concert Royal Köln mit Werken von Bach, Charpentier, Couperin und Vivaldi das Eröffnungskonzert übernahm. Die zweifach mit dem Echo Klassik ausgezeichneten Musiker um Gründerin Karla Schröter (Oboe und Cembalo) spielten mit Barockoboen, Taille, Truhenorgel und Barockfagott Werke aus dem 18. Jahrhundert und erwiesen sich als ein mehr als würdiges Entrée des Klassikfestivals. Die Musik höfischer „Hautboisten-Banden“, wie u. a. das Hauptthema aus dem Preludium von Charpentiers „Te deum“, das noch heute als Eurovisionshymne gespielt wird und von den sechs Musikern exzellent dargeboten wurde, gefiel den Zuhörern und sie bedankten sich mit langanhaltendem Applaus.
Von den Haller Bach-Tagen ist man Vielfalt gewohnt, und die wurde am Folgetag mit Latin Jazz im Storck Treffpunkt und damit einem vollkommen anderen Genre bedient. Steffi Ford, für die von der Süßwarenfirma eigenständig organisierten Events verantwortlich, bewies wiederholt ein Gespür für außerordentliche Musik. Walter Hempelmann, Superintendent des Evangelischen Kirchenkreises Halle, und Achim Westerhoff, Geschäftsführer der Firma Storck, verabschiedeten die Organisatorin daher schweren Herzens, denn mit dem Konzert „Elusive Beauty“ geht Steffi Ford in den Ruhestand. Sebastian Schunke, der sich in der Welt des Latin Jazz einen internationalen Ruf erarbeitet hat und als kühner Innovator gilt, brachte auf seinem Piano den mehr als 500 Gästen einen einzigartigen und neuen Sound nahe, ungewohnte Klänge, mitunter atmosphärisch. Ein Erlebnis, dass die Hörenden in ihren Bann zog. Mitunter ließen sich seine Empfindungen, die der 46-Jährige mit „An die Liebe“, „Fernweh“ oder „Mein spanischer Traum“ überschreibt und zwischen den Titeln humorvoll interpretierte, abspüren. Ihm zur Seite standen der Ausnahmekünstler Benjamin Weidenkamp (Bassklarinette) und Echo-Jazz-Preisträger Diego Pinera aus Uruguay am Schlagzeug. Die Zuhörenden erklatschten sich eine Zugabe und waren sich mehrheitlich einig: ein tolles Erlebnis, diese spezielle und außergewöhnliche Musik einmal live erlebt zu haben.
Mit dem Kammerchor Stuttgart unter der Leitung von Frieder Bernius wartete ein weiterer musikalischer Höhepunkt in der voll besetzten St. Johanniskirche auf die Zuhörerinnen und Zuhörer. Das Ensemble gilt als eines der besten seiner Art. Konzertreisen dieses Ausnahmechores führen in die ganze Welt, 50 der ca. 100 CD-Aufnahmen wurden bisher mit Auszeichnungen prämiert. Friedemann Engelbert war selber jahrelang ein Teil davon und singt auch heute noch bei zwei bis drei Projekten jährlich mit. Mit „Bach-Reflexionen“, u. a. der Motette „Fürchte dich nicht“ von Johann Christoph Bach (ein Onkel Johann Sebastians), Felix Mendelssohn-Bartholdys „Denn er hat seinen Engeln befohlen über dir“ (man hätte eine Stecknadel fallen hören, so konzentriert lauschten alle den wohlklingenden Stimmen) oder der Motette „Komm, Jesu komm“ von J. S. Bach, zogen die gut 20 Sänger und Sängerinnen das Publikum in ihren Bann. Auch an schwierige Werke der modernen Chormusik wagten sich die Ausführenden. Dazu zählt sicher Knut Nystedts „Immortal Bach“ (1987) oder Dieter Schnebels „Contrapunctus 1“ (1970). In immer wechselnden Aufstellungen – mal standen die Ausführenden in unterschiedlicher Zahl im Rund vor dem Altar, mal in fünf Chorgruppen verteilt in der Kirche oder, wie nach der Pause, einzeln verteilt zwischen den Konzertbesuchern. Das Publikum zollte dem hohen Niveau des Ensembles Respekt mit langanhaltendem Applaus. Als Zugabe erklang „Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn“, eine Kantate J. S. Bachs.
Ein Novum der Haller Bach-Tage: Werke aus Bachs früher Schaffensperiode, gespielt an der Heintz-Orgel, erklangen bereits um 9 Uhr morgens in der St. Johanniskirche. "Ein Frühkonzert mit dem Titel ‚Der frühe Bach‘, gespielt vom früheren Leiter der Bach-Tage mit einem anschließenden Frühstück" - so kündigte Friedemann Engelbert humorvoll Martin Rieker an, der das Orgelkonzert als Rundumschlag einschließlich Weihnachtszyklus beschrieb. "In dieser Zeit (um das Jahr 1700) überlegt Bach, wie er Meister werden kann", so Rieker. Vom Weihnachtszyklus mit vier Chorälen wie "In dulci jubilo" oder "Vom Himmel hoch" bis hin zur Toccata und Fuge d-moll BWV 565 brillierte Rieker, so dass das Publikum so lange applaudierte, bis die erhoffte Zugabe kam. Ebenfalls Premiere bei den Haller Bach-Tagen: Die Zuhörer konnten anschließend an einem Frühstückbuffet in der Remise teilnehmen. Dieses Angebot wurde von fast allen Besuchern angenommen, so dass sich mehr als 80 Interessierte bei einer Tasse Kaffee und Brötchen über das Konzert austauschen konnten.
Das Thema der Bach-Tage wurde mit „Am Anfang war das Wort“ wörtlich aufgegriffen, nicht nur musikalisch, sondern auch mit gelesener Literatur. In der vollen Herz-Jesu-Kirche rezitierte die aus dem „Tatort“ oder „Polizeiruf 110“ vielen bekannte Schauspielerin Helene Grass verschiedene Texte im Dialog mit den Musikern. „Im Anfang war das Wort“ – so begann ihr erster vorgetragener Text aus Goethes Faust, gefolgt von Rose Ausländers „Das Wort“. Die Zuhörer hingen an ihren Lippen, mucksmäuschenstill war es, wenn die 45-Jährige pointiert und sicher Zeilen von Max Frisch, Yehudi Menuhin, Rainer Maria Rilke oder Ulla Hahn zu Gehör brachte. Als Höhepunkt kann man sicherlich „Das Treffen in Telgte“ ansehen, das von ihrem Vater Günter Grass 1979 geschrieben wurde. Damit ließ sie das Publikum Anteil nehmen an einem fiktiven Treffen 1647 deutscher Schriftsteller und Dichter, die ein Friedensmanifest erstellten, welches jedoch einem Brand zum Opfer fiel. Das Kölner Ensemble „CordArte“ – Violinist Daniel Deuter, Heike Johanna Lindner an der Viola da gamba und Markus Märkl am Cembalo – boten im Wechsel zu den Wortbeträgen Musik des 17. Jahrhunderts, als in Italien die Musik revolutioniert und erneuert werden sollte. Spielte bislang der Text eine untergeordnete Rolle, sollte nun das Wort Ausgangspunkt für einen neuen Kompositionsstil werden. Werke von Girolamo Frescobaldi, Vincenzo Bonizzi oder Giovanni Salvatore unterstrichen dies ausdrucksstark. Langanhaltender Applaus und eine Zugabe war auch bei diesem Konzert vorhersehbar.
„Das war klasse“, waren sich Amy, Marie und Hannah (6 und 7 Jahre) einig, als sie nach dem Kinderkonzert die St. Johanniskirche verließen. Sie hatten gerade die kindgerechte Fassung von Haydns „Die Schöpfung“, geschrieben von Reiner Schulte, gesehen und gehört. Im Vorfeld gab es von Anne Engelbert-Riepe in den Haller Grundschulen eine Einführung in die Musik des bekannten Komponisten. Die Kinder und deren Begleitung wurden Zeugen eines launigen Dialogs zwischen den Erzengeln Raphael (Felix Schwandtke, Bass), Uriel (Florian Sievers, Tenor) und Gabriel (Susanna Martin, Sopran), die in verschiedenen Szenen die Entstehung der Erde erklärten. Licht, Sonne, Mond, Tiere und Menschen aus Gottes Schöpfung wollten die Drei nicht einfach nur ‚langweilig‘ erzählen, sondern gemeinsam mit den 40 Musiker*innen des Ensembles Aperto (Leitung: Elfriede Stahmer) und den Heerscharen, die der Bach-Chor mit 80 Sänger*innen eindrucksvoll darstellte. Aber was für ein Chaos, wenn alle durcheinander musizieren. Da braucht es jemanden, der da Ordnung hineinbringt. „Wer soll das sein? Angela Merkel? Ein Fußballtrainer?“ fragte Gabriel die Kinder. Die wussten natürlich sofort die richtige Antwort: Ein Dirigent musste her und glücklicherweise war mit Friedemann Engelbert der richtige Mann schnell gefunden. Eine herrlich kurzweilige Aufführung mit gut aufgelegten Musikern, Chor und Solisten.
Keine zwei Stunden später fanden sich alle Ausführenden des Kinderkonzertes am selben Ort zum Chorkonzert für Erwachsene ein. Joseph Haydns Meisterwerk „Die Schöpfung“, 1798 in Wien uraufgeführt, beschreibt in den ersten beiden Teilen die biblische Schöpfung der Erde. Die St. Johanniskirche wurde anfangs verdunkelt und Chor und Musiker dann jeweils passend zur Erschaffung von Himmel und Erde (blau), Pflanzen (grün), Wasser (blau) usw. stimmungsvoll in ein farbiges Licht getaucht. Die drei Erzengel übernahmen wie schon am Nachmittag die Erzählerrolle. Im dritten Teil standen Adam und Eva mit einem Liebesduett im Mittelpunkt. Den Text findet man nicht in der Bibel, sondern in Zitaten des englischen Dichters John Milton („Paradise Lost“). Chor, Solisten und Musiker unter der Gesamtleitung von Friedemann Engelbert brillierten in ihren Leistungen, was das Publikum in der ausverkauften Kirche mit Standing Ovations und tosendem Applaus quittierte. Als Schlusspunkt der 57. Haller Bach-Tage wurde dieses herrliche Konzert am darauffolgenden Tag in der Bielefelder Nicolaikirche wiederholt.
Komplettiert wurde das vielseitige Programm mit weiteren Aufführungen: Bereits im November des vergangenen Jahres gab es ein Prologkonzert (ein Novum der Haller Bach-Tage) mit dem Thema des Klassik-Festivals „Am Anfang“, welches Hermann Hickethier (Viola da gamba), Tilman Coers (Violoncello) und Friedemann Engelbert am Cembalo ausführten. Mit „Neues Leben“ war das Magnificat (Lobgesang Marias) und das Osteroratorium mit dem Vokalensemble Telemannisches Collegium Michaelstein, Solisten sowie der Johanniskantorei unter der Leitung des Haller Kantors betitelt. Das Schuppanzigh-Quartett gratulierte im „Geburtstagskonzert“ auf Originalinstrumenten der damaligen Zeit mit Werken von Pierre Rode und Franz Krommer dem Komponisten Ludwig van Beethoven zum 250. Geburtstag. Auch sein eigenes Quartett Op. 18/1 kam zu Gehör. Im Festgottesdienst brachten der Bach-Chor, Solisten und das Ensemble „La Réjouissance“ Bachs Kantate „Wie schön leuchtet der Morgenstern“ zu Gehör, die Predigt hielt Reinhard Mawick (UK berichtete).
KMD Friedemann Engelbert ist es gelungen, das Klassikfestival mit einem vielseitigen Programm, Veranstaltungen der Extraklasse und hochkarätigen Künstlern zu bestücken. Er selber zeigte sich sehr zufrieden: „Es hat mich gefreut, dass sich alle auf mich eingelassen haben. Bemerkenswert finde ich die Ausdauer der Konzertbesucher: immer wieder da zu sein, viele sogar mehrere Male. Es war ein richtiges Festival-Feeling und vor allen Dingen: es hat Spaß gemacht.“ Nach einer Verschnaufpause kann er mit den ersten Proben beginnen, denn das Datum für die 58. Haller Bach-Tage steht fest: vom 29. Januar bis zum 14. Februar 2021, dann lautet das Motto „Aus Liebe“. (dag)