WERTHER – Es war eine sehr besondere Stimmung im Gemeindehaus an der Alten Bielefelder Straße, als Pastor Matthias Storck der Einladung von Hartmut Splitter folgte und damit zum ein-drücklich Vortragendenden „der letzten“ gemeinsam verbrachten Stunde in Zeiten von Corona wurde. Mehr als 60 Menschen wollten wissen, was Matthias Storck als Theologiestudent und Pfar-rerssohn zu DDR-Zeiten erlebt und erlitten hat.
Der mittlerweile für den Evangelischen Kirchenkreis Halle berufene Pfarrer wurde im Dezember 1979 aus dem Zuchthaus Cottbus freigekauft und durfte daraufhin in den Westen ausreisen. „Es ist eine große Gnade, wenn man in einer Diktatur nicht zum Verräter wird“, sagt Matthias Storck. Der Schock nach Öffnung der Stasiakten viele Jahre später brachte eine unglaubliche und für den Theo-logen lebensbedrohliche Erkenntnis ans Licht: Freunde, Kollegen und sein Vater wurden als „IM’s“ beim Staatssicherheitsdienst der DDR dermaßen unter Druck gesetzt, dass sie Matthias Storck de-nunzierten und damit eine Verhaftung über mehr als ein Jahr initiierten. Wie unmenschlich die Haftbedingungen für den damals jungen Theologiestudenten waren, davon erzählt Storck eindrück-lich in seinem Buch „Karierte Wolken“.
Der neue „Kollege“ Hartmut Splitter begrüßte Matthias Storck im synodalen Kreis als einen mutigen Oppositionellen, der trotzig widersprach und dafür mit lebensbedrohlicher Demütigung seitens des DDR-System bestraft wurde. Eine späte Ehrung für sein „Leben im Widerstand“ erfuhr Storck erst 2012 mit der Verleihung des Bundesverdienstkreuzes am Bande aus den Händen von Joachim Gauck, dem Bundespräsidenten und Freund.
Storck bebilderte seine erschütternden Lebenserinnerungen mit Fotos, auch mit einer verwitterten Abbildung des „letztes Abendmahl“ von Da Vinci. Diese Darstellung hat Storck allen seinen Kon-firmandenjahrgängen kopiert und mit einem eindrücklichen Zitat von Bulat Schalwowitsch Okud-schawa unterschrieben: „Der erste Verrat kann aus Schwäche gescheh’n, der zweite will schon Or-den seh’n, und beim dritten musst du morden geh’n“.
Storck erzählt heute dankbar davon, dass er und seine Frau Christine nie mit dem DDR-System kol-laboriert hätten, ganz im Gegensatz zu Theologen in seinem engsten Umfeld. Sowohl der Gefäng-nisseelsorger als auch der eigene Vater haben mit der „Stasi“ zusammengearbeitet. Das erfährt Storck erst viel später beim Lesen seiner Stasi-Akte. Noch heute spüren seine Zuhörer*innen, wie wahr sein Kommentar dazu ist: „Ich wäre fast gestorben, als mir die Tragweite bewusst wurde.“ Gerade in der grausamen Gefängniszeit sei ihm das „eindrücklichste Abendmahl meines Lebens“ vom eigenen Vater mit Kuchen und Kaffee für Brot und Wein im Beisein von Gefängniswärtern gespendet worden.
Fast entschuldigt sich Storck für die „schwere Kost“, die er seinen Zuhörer*innen zumutet. Doch für Storck sind es biografische Wahrheiten, die ihn bis heute prägen und verfolgen. Deshalb war sein Engagement nach der Wende auch sehr konkret: Mit anderen ehemaligen Gefangenen kaufte er den Knast und heute befindet sich an diesem Ort eine Gedenkstätte. Viele Gefühle oder Seelennöte aus der Vergangenheit zitiert Storck mit Zeilen vom persönlichen Freund Wolfgang Biermann. Etwa die Zerrissenheit zwischen „am liebsten weg zu wollen“ und „am liebsten hier zu bleiben“, scheint unauflöslich.
Was ihn psychisch und physisch am Leben erhalten habe, so Storck, sei auch die „tätige Liebe und der unermüdliche Einsatz“ der westdeutschen Freunde gewesen. „In schlimmsten Zeiten hat mir der gemeinsame Glaube an Gott stets Hoffnung gegeben und Mut gemacht“, bedankte sich Storck im Jahr 2020 noch für alle Unterstützung, die – auch aus Werther – viele Jahre geholfen habe. „Bei uns reichte es entweder für Kleidung oder für Essen“, erinnerte der Theologe an karge und unerträgliche Zeiten.
Gerade in diesen Corona-Zeiten sei die Lektüre von „Karierte Wolken“ von Matthias Storck emp-fohlen: Wie sehr die FDJ-Zugehörigkeit den eigenen Lebensweg bedingte und wie die Verweige-rung auch das Abitur versperrte. Wie viel Mut und Zivilcourage es brauchte ein Christ in der DDR zu sein und vieles mehr, sollten wir unbedingt noch einmal genau nachlesen. (CG)