„Dieser Vortrag wird unter die Haut gehen“, warnte die Versmolder Pastorin Anja Keppler die Zuhörer der Lesung „Warum ich Nazi wurde“ vor. Sie sollte recht behalten, denn nicht nur die vier Biogramme, die Sven Söhnchen aus einer Sammlung von 581 Berichten im Gemeindehaus an der Versmolder Petri-Kirche vorlas, stimmten nachdenklich. Auch die Lieder, die der Singer-Songwriter Björn Nonnweiler zwischen den Schilderungen sang, berührten das Publikum.
Der amerikanische Soziologe Theodore Abel (geboren in Polen) lobte 1934 ein Preisausschreiben für die beste persönliche Lebensgeschichte mit Gewinnen zwischen 10 und 125 Reichsmark aus. Vollständig, offen und ehrlich sollten familiäre Herkunft, Bildungsweg und der persönliche Weg zum Nationalsozialismus geschildert werden. 683 Lebensgeschichten aller Bevölkerungsschichten kamen zusammen, 581 davon sind heute noch erhalten. Wieland Giebel, Gründer des Berlin Story Verlages, hat die aussagekräftigen Berichte als Buch veröffentlicht.
Die Beweggründe für den Anschluss an die Nazis ziehen sich wie ein roter Faden durch die Lebensgeschichten: Sehnsucht nach einem charismatischen Führer, Unzufriedenheit der damaligen Verhältnisse, eine völkische Ideologie, Wiederherstellung der Selbstachtung, Angst vor sozialem Abstieg.
Sven Söhnchen aus Hagen las in Versmold die Biogramme von Ernst Seifert (geb. 1888), Friedrich Christian Prinz zu Schaumburg-Lippe (geb. 1906), Johann Scheer (geb. 1876) und der 17-jährigen Lizzy Schneider (geb. 1916) vor. Allen gleich ist die Hoffnung auf den Führer als Erlöser. Versammlungen seien wie Gottesdienste. „Er ist ein Mensch, der so lebt, wie Gott es von uns allen will“, heißt es einmal.
Björn Nonnweiler – ebenfalls aus Hagen - erzählte mit dem Lied des deutschen Liedermachers „Die Kinder von Izieu“ die bedrückende, wahre Geschichte von 44 jüdischen Waisenkindern zwischen vier und siebzehn Jahren, die im April 1944 in ein Konzentrationslager deportiert und in der Gaskammer getötet wurden. Das Friedenslied „Es ist an der Zeit“ von Hannes Wader, „Der Wind weht allezeit über das Land“ von Reinhard Mey sowie das italienische Partisanenlied „Bella ciao“ folgten.
Im Anschluss an die Vorlesung zog Sven Söhnchen Verbindungslinien zur heutigen Zeit. Radikalisierung sei kein Fremdwort, das sei heute unglücklicherweise total aktuell. „Wir müssen weiterkämpfen, um vom ‚rechten‘ Weg abzukommen! So etwas darf nie wieder passieren! Wir werden nicht aufhören, gehen mit dieser Lesereihe in die Oberstufen der Schulen.“ Genau wie Wieland Giebel sei auch er irritiert, dass Menschen heute für solche Ideen empfänglich sind und sich auf Rassismus einlassen. Im Gegensatz zu ihnen wussten die Schreiber der Lebensberichte von 1934 nichts über die Folgen, vom Krieg, den Toten und dem Holocaust.
Eine Anekdote zum Schmunzeln gab er zum Ende der Veranstaltung preis: „Klar, der Titel des Buches schafft Verwirrung. Von Schülern wurde ich schon gefragt, warum ich denn nun Nazi geworden sei und warum ich damit auf Tournee gehe.“
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