Der 20. November 2023 hat mich aufgewühlt und tief berührt. An diesem Tag trat Annette Kurschus von ihren Ämtern als Präses der Ev. Kirche von Westfalen sowie als Ratsvorsitzende der Ev. Kirche in Deutschland zurück. Sie sah sich zu diesem Schritt genötigt, weil deutlich geworden war, dass sie zu lange geschwiegen oder (anders ausgedrückt) zu zögerlich kommuniziert hatte. Denn die Antworten, die die Öffentlichkeit mit gutem Recht von ihr erwartete, bezogen sich auf das Thema sexualisierte Gewalt. Genauer: auf Kurschus’ Rolle bei der Aufarbeitung eines Verdachtsfalls aus den 1990er-Jahren im Siegerland.
Hatte Annette Kurschus hier etwas vertuscht? Womöglich um in ihrem Amt bleiben zu können? Oder um den Ruf ihrer Kirche zu schützen? Diese Fragen werden nun geklärt. Sie sind mit anderen Worten noch offen. Allen voran die Staatsanwaltschaft, dann auch Kirchenleitung und Medien müssen hier in den nächsten Wochen für Klarheit sorgen.
Kurschus selbst hatte in ihrer Stellungnahme angedeutet, der Konflikt um ihre Person sei geschürt worden. Das ließ Spekulationen zu. Viele witterten Medienschelte. Und in der Tat war Kurschus’ Stellungnahme in diesem Punkt ungewohnt schwach. Sie, die über Jahre Maßstäbe gesetzt hatte mit ihren klugen, differenziert vorgetragenen Analysen, blieb hier die nötige Präzision und Umsicht schuldig. Und ich frage mich: Woran mag das gelegen haben?
Tags drauf veröffentlichte die Neue Westfälische auf der Titelseite ein Foto der Ex-Präses und -EKD-Ratsvorsitzenden: Annette Kurschus, wie sie während ihrer Stellungnahme mit den Tränen ringt. Ein Mensch in dem Augenblick, da er seine tiefe Traurigkeit und Enttäuschung nicht mehr verbergen kann. Es war diese sichtbar gewordene menschliche Verletzlichkeit, die mich auf dem Foto wie in der Situation selbst tief berührt hat.
Wer nun beim Lesen des NW-Artikels und Kommentars von Carolin Nieder-Entgelmeier auf einen Ton gehofft hatte, der ebenso menschlich daherkäme, wurde bitter enttäuscht. Das Fazit lautete, Kurschus sei der Schutz ihrer Institution wichtiger gewesen „als der Schutz von Menschen“, folglich sei sie untragbar. Einen ähnlichen Ton hatte schon am Vorabend Tilmann Kleinjung vom Bayerischen Rundfunk in seinem Kommentar in den Tagesthemen angeschlagen: Kurschus habe sich disqualifiziert für ihre Ämter, ihr Handeln sei zuletzt nicht mehr vom Streben nach Transparenz, Aufklärung und Gerechtigkeit geprägt gewesen, sondern von Selbstgerechtigkeit.
Unangenehm an beiden Kommentaren: Sie behaupten, sich ins Zeug für mehr Menschlichkeit zu legen – und das einzig Menschliche, was sie an der Beschuldigten wahrnehmen, sind ihre offensichtlichen Schwächen und Fehler. Aber war da nicht noch mehr? Und zwar mehr als ein Detail: Ging es da nicht um ein Patenkind? Um eine Freundin? Um das prüde Klima in einer kleinen Stadt? Bitte nicht missverstehen: All das kann nicht relativieren, was in Kurschus’ Krisenkommunikation wie in ihrer abschließender Stellungnahme misslungen ist. Aber es dürfte dieses Misslingen miterklären.
Die Predigerin Annette Kurschus hat eine (bisweilen bis ins Enervierende getriebene) Eigenschaft, die ich – wie viele andere auch – ihr hoch anrechne: Sie wägt und wendet ihre Themen hin und her, bis sie genügend Perspektiven eingenommen hat, um sich ein buchstäblich profiliertes Urteil zu bilden. Ihre Bereitschaft und Fähigkeit, fein zu differenzieren und sich vorschnellen Antworten zu verweigern, hat wieder und wieder Räume geöffnet: für echten Austausch und ernsthafte Menschlichkeit. Dass sie dieses Potential in ihrer vorläufig letzten öffentlichen Rede nicht mehr hat ausschöpfen können, ist so bedauerlich wie menschlich nachvollziehbar. Kurschus fühlte sich persönlich diffamiert und konnte vermutlich deshalb nicht mehr souverän antworten. Die empathische Sorgfalt ihrer Reden hebt sich davon nur umso leuchtender ab. So wird sie in Erinnerung bleiben.
Im Jahr 2023 stehen die Medien in Deutschland kaum weniger unter Druck als die christlichen Kirchen. Die Fälle Reichelt, Relotius und Schlesinger sprechen Bände. Die Abonnentenzahlen und die Akzeptanz des Rundfunkbeitrags in der Bevölkerung ebenso. Menschlichkeit lautstark einzufordern, selbst aber nicht einmal in einem Nebensatz anklingen zu lassen, wie es NW und BR gerade vorgemacht haben, ist vor diesem Hintergrund keine gute Strategie. Krasse Selbstwidersprüche haben noch jede Institution in Bedrängnis gebracht. Als Evangelische Kirche können wir davon ein Lied singen. Die Menschen werden für die Medienbranche keine Ausnahme machen. Wer andere der Selbstgerechtigkeit bezichtigt, muss zeigen, dass er selbst es besser macht. Und dass eine andere, differenziertere und menschlichere, doch in der Sache genauso eindeutige Positionierung möglich gewesen wäre, beweisen zum Beispiel die Kommentare von Johan Schloemann in der Süddeutschen Zeitung und von Georg Löwisch in der Zeit. Auch Nieder-Entgelmeier und Kleinjung haben wiederholt gezeigt, dass sie umsichtiger urteilen können. Der Gegenstand hätte es verdient gehabt.
All das ändert zwar nichts an der Notwendigkeit des Rücktritts von Annette Kurschus. An ihrer Beurteilung jedoch eine ganze Menge: In ihrem mitfühlenden Differenzierungsvermögen ist Kurschus – trotz der ihr unterlaufenen Fehler – nach wie vor ein Vorbild. Hoffentlich bald auch (wieder) für Carolin Nieder-Entgelmeier und Tilmann Kleinjung.
Brockhagen, den 30. 11. 2023 Pfr. Dr. André Heinrich, Superintendent