Vor der Tür stehen Polizeiautos, Menschen demonstrieren für den Frieden in Israel und Palästina. Es ist ungewohnt und bizarr für die kleine Delegation aus dem Kirchenkreis Halle und der Kirchengemeinde Brockhagen, sich an den Sympathisanten vorbeizudrängeln und an diesem Freitag Abend in die Bielefelder Synagoge zu gehen.
Denn im Inneren findet der ganz normale Gottesdienst zum Schabbat statt, zu dem die Gäste um Superintendent Dr. André Heinrich eingeladen wurden. „Wir wurden sehr herzlich begrüßt, ein junger Mann übernahm die Gesprächsführung und stellte sich unseren Fragen und gab Einblicke in den Synagogenalltag. Nachdem wir unsere Gastgeschenke überreicht hatten – Kartoffeln. Streuobstwiesensaft, selbstgeschleuderter Honig und die gute Dorfmilch aus Brockhagen - wurden wir gebeten in den Gottesdienstraum zu gehen. Vorher mussten wir Männer die traditionelle Kopfbedeckung, die Kippa, aufsetzen, wobei Pfarrer Heinrich bei mir Hand anlegen musste, weil nicht korrekt aufgesetzt…“, berichtet Presbyter Heiko Wortmann lachend von diesem Erlebnis.
Natürlich wurde auch im Gottesdienst der politische Konflikt, die Geiselnahme, die militärischen Handlungen thematisiert. Aber es ging auch um Hoffnung, um Sonnenstrahlen und um Staunen.
Der moderne Bilderbuch-Klassiker "Frederick", die Geschichte von der Maus, die nicht wie die anderen für den Winter Körner und Nüsse, sondern Sonnenstrahlen, Farben und Wörter sammelt, die Träume also und die Hoffnungen stand im Zentrum der Predigt von Rabbinerin Natalia Verzhbovsha. Sie setzte das Kinderbuch in Beziehung zur alttestamentarischen Erzählung von Josef und seinen Brüdern, einem anderen Träumer.
In der Predigt gleicht der jüdische Gottesdienst dem Christlichen, in seiner Liturgie hingegen überraschte er die Delegation mit seiner Fülle an gesprochenen und gesungenen Psalmen und Gebeten. Unglaublich schnell hintereinander folgen die Passagen – „sonst würden wir hier stundenlang sitzen, das möchte ja niemand“, verrät Rabbinerin Natalia Verzhbovsha hinterher augenzwinkernd. Denn nach dem Gottesdienst geht es weiter mit dem Kiddusch.
Der Kiddusch ist ein Segenstext, mit dem viele Jüdinnen und Juden ihre Mahlzeiten beginnen. Am Schabbat werden mit dem Kiddusch ein Becher Wein und die Feiertagsbrote, Challot, gesegnet. Die Tradition hat ihren Ursprung darin, dass man die Menschen, die keine Familie hatten, einbinden wollte und ihnen somit die Möglichkeit einer kleinen Mahlzeit gab. In der Synagoge Beit Tikwa, die seit dem Jahr 2008 das Zentrum der jüdischen Kultusgemeinde Bielefeld ist, gab es im Anschluss sogar noch ein richtiges Buffett.
Bei koscheren Speisen gab es für die Besucher aus dem Kirchenkreis Halle dabei die Gelegenheit, mit den Jüdinnen und Juden ins Gespräch zu kommen. Nicht nur der steigende Antisemitismus in Deutschland wurde dabei thematisiert, auch der enorme Zuwachs von Gemeindemitgliedern durch Geflüchtete aus der Ukraine und die damit einhergehenden neuen Aufgaben. „Alles in allem war der Besuch hochinteressant und hat bei mir nachgewirkt und einen bleibenden Eindruck hinterlassen“, erzählt Heiko Wortmann.