Andacht vom 29. April 2012

29. April 2012 - Jubilate

Erwachen im Paradies

Plötzlich war Marcel in Venedig. Ich konnte das kaum glauben. Und ich hatte nicht einmal bemerkt, wie er dorthin gekommen war. Er sagte: „Während die Gondel, die uns heimwärts trug, den Canale Grande hinauffuhr, sahen wir, wie die aufgereihten Paläste, zwischen denen wir dahinglitten, Licht und Stunde auf ihren rosigen Fronten widerspiegelten.“

Seit Monaten erzählt mir Marcel sein Leben. Seine Kindheit in der französischen Provinz. Später die Jahre in den Pariser Salons. Marcel ist der Erzähler des großen Romans von Marcel Proust: „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“, den ich mir als Hörbuch vorlesen lasse.

Schon als Junge hatte Marcel von Venedig geträumt. Es war in seiner Phantasie nicht nur eine Stadt gewesen, sondern etwas Bedeutenderes. Irgendwie unwirklich. Wie ein Paradies: Ein Ort der Sehnsucht und der Erlösung. Er war sich „darüber klargeworden, dass ich keineswegs dabei eine Stadt vor mir sah, sondern etwas ebenso sehr von allem, was mir vertraut war, Unterschiedenes und ebenso Köstliches, wie für eine Menschheit, deren Leben einzig in der Atmosphäre später Winternachmittage verlaufen wäre, das Wunder eines Frühlingsmorgens hätte bedeuten müssen.“

Neulich musste ich mit Fieber das Bett hüten. Wieder einmal lief das Hörbuch mit Marcels Erinnerungen. Gerade trauerte er über den Tod seiner Freundin. Die ausgeglichene Stimme des Sprechers floss melodisch dahin. Doch plötzlich verändert sich sein Ton. Er spricht von Venedig. Ich habe etwas Zeit gebraucht, bis ich begriffen habe: Ich musste beim Zuhören eingeschlafen sein. War sanft ausgestiegen, als Marcel vom Tod sprach. Und bin erst wieder aufgewacht, als er mit seiner Erzählung schon in Venedig angekommen war. In der Stadt, die ihm immer wie ein Paradies erschienen war.

Vielleicht kann so ein tröstliches Sterben aussehen. Ich schlafe ein, ohne es zu merken. Und erwache an einem paradiesischen Ort. Einer Gegend, von der ich lange geträumt habe. Von der ich nur ungenaue Bilder vor Augen hatte. Und die nun wie ein Frühlingsmorgen ist für jemanden, der bislang nur Winterabende kannte. So erwärmend wünsche ich mir das neue Leben in der Nähe Gottes.

von Dr. Sven Keppler, Pfarrer der Evangelisch-lutherischen Kirchengemeinde Versmold.