Andacht zum 17. Mai 2015

Wort zum Sonntag Exaudi 17. Mai 2015

Von Pfarrer Christoph Grün

70 Jahre - eine lange Zeit! Ein Menschenleben kann so lang sein, manchmal länger, manchmal aber auch viel kürzer. 70 Jahre ist es in diesem Monat her, dass in Europa die Waffen schwiegen, dass das entsetzliche Blutvergießen des Zweiten Weltkriegs zumindest in unserer Region ein Ende hatte.

Wenn ich als Kind, aber auch noch als Jugendlicher die Erwachsenen über dieses Ende sprechen hörte, dann sagten sie fast immer „Zusammenbruch“ dazu. Von „Befreiung“ war nicht die Rede. Zusammengebrochen ist damals ein verbrecherisches Unrechts-Regime, das die Menschen bis zuletzt vollkommen im Griff hatte und noch in den letzten Kriegstagen Kinder und Senioren todgeweiht den anrückenden Panzern der Aliierten entgegenwarf. Zusammengebrochen ist die mörderische Maschinerie des Holocaust, einer zynisch geplanten und von vielen fleißigen Helfern durchgeführten Mordaktion, die in der Menschheitsgeschichte keine Parallele hat. Zusammengebrochen ist eine menschenverachtende faschistische Diktatur mit einem Wahnsinnigen an der Spitze, der von Millionen wie ein Gott verehrt wurde.

Auch 70 Jahre später haben wir Nachgeborenen allen Grund, unseren Befreiern dankbar dafür zu sein, dass wir im Frieden aufwachsen durften, dass die Grundsätze von Menschenrecht und Menschenwürde sich allmählich in den Köpfen und Herzen der (meisten) Menschen in unserem Land haben durchsetzen können!


Leider haben sich auch die christlichen Kirchen in der Zeit des „Dritten Reiches“ nicht sonderlich mit Ruhm bedeckt. Trotz des kirchlichen Selbstbewusstseins der Bekennenden Kirche, trotz der erfolgreichen Proteste katholischer wie evangelischer Christen gegen die systematische Ermordung behinderter Menschen gab es nur in Einzelfällen politischen Widerstand - geschweige denn eine nennenswerte Solidarität mit den jüdischen Opfern des rassistischen Naziregimes. Erst im Oktober 1945 formulierten führende evangelische Theologen die „Stuttgarter Schulderklärung“, in der es heißt: „Durch uns ist unendliches Leid über viele Völker und Länder gebracht worden. (...) Wir klagen uns an, dass wir nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben.“


70 Jahre später leben wir im Frieden, während überall auf der Welt der Krieg nach wie vor sein furchtbares Unwesen treibt, während rassistische Gewalttäter in unserem Land Flüchtlingsheime anzünden, während die alte Judenfeindschaft in islamischer Verkleidung neu auflodert. Wem gilt heute unser Mut? Was bekennen wir als die Mitte unseres Lebens? Trauen wir uns noch zu beten? Macht unser Glaube uns froh? Brennt in uns die Liebe zu allen Menschen, besonders zu denen, die Schutz und Hilfe bei uns suchen? 70 Jahre nach der Befreiung habe ich manchmal das Gefühl, wir müssten erneut befreit werden - vom Egoismus, von der Habsucht, von der Härte und der Gleichgültigkeit, die sich so schnell in unseren Herzen breitmachen. Von dem allen befreie uns der lebendige Gott!


Von Pfarrer Christoph Grün, Kreiskirchlicher Pfarrer