Wort zum 22. Februar 2015, Invocavit
Stark zu sein, ist der höchste Wert und deshalb das erste Gebot unserer Zeit. Noch nie wurde Stärke, scheint es, so vergöttert wie heute. Ihre Deklinationsformen lauten: Vitalität, Aktivität, Flexibilität, Mobilität… Wer hier mithalten will (und das am besten möglichst weit vorne), muss rundum fit sein – oder zumindest so tun. In der globalen Diktatur der Stärke ist Etikettenschwindel, vom Doping im Sport über Bilanzfälschung in der Wirtschaft bis hin zum Plagiat in der Wissenschaft, längst zur Überlebensstrategie geworden.
Der christliche Glaube hingegen gesteht uns auch die mannigfaltigen Erfahrungen von Schwäche zu: Kraftlosigkeit, Leistungstief, Versagen, Unterliegen… In der Zeit zwischen Aschermittwoch und Ostern vergegenwärtigt er sich darum noch intensiver als sonst die „Passion“ Jesu Christi, also sein Leiden und Sterben, als bewusste An-(teil)nahme (an) der Schwachheit, die nun einmal unabdingbar zur Lebenswirklichkeit von uns Menschen gehört (siehe dazu etwa Hebräer 4,15; 5,2). Statt sie zu verleugnen, bekommt sie im Zeichen des Kreuzes sogar einen guten und tiefen Sinn.
Um diesen Sinn zu verstehen, hilft ein Blick auf unser vegetatives Nervensystem. Es besteht aus zwei gegenläufigen, einander ergänzenden Teilen. Der Sympathikus bewirkt Wachheit und Leistungsfähigkeit des Organismus, während der Parasympa-thikus für dessen Erholung und entsprechende Ruhezustände sorgt. Wer könnte und wollte wohl schon auf entspannende Tätigkeiten ohne unmittelbare Zweckbindung, gar auf den Schlaf verzichten?
Phasen der Schwäche sind, so lehrt es uns die Biologie, kein Manko, nichts, dessen wir sich schämen müssten. Vielmehr bewahren sie uns vor einem vorzeitigen Aus-brennen, vor tödlicher Überforderung. Wo wir uns als schwach erleben, wachsen uns zudem Fähigkeiten zu, auf die jedes gedeihliche Zusammenleben angewiesen ist. Bescheidenheit, Empfindsamkeit, Einfühlungsvermögen, Vergebungsbereitschaft – all dies macht uns doch buchstäblich sym-pathisch („mit-leidend“). Genau das vermissen wir oft gerade an den Winner-Typen, jenen Ikonen der modernen Leistungsreligion. Sie verkörpern im Grunde ein unmenschliches, erbarmungsloses, lebensfeindliches Ideal. Der in Jesus Christus menschgewordene Gott macht demgegenüber jedenfalls Mut, auch zu den eigenen Schwächeanfällen, gleich welcher Art, zu stehen. Auch dazu lädt uns die beginnende Passionszeit ein.
von Hartmut Splitter, Pfarrer der Evangelisch-lutherischen Kirchengemeinde Werther