20. November 2011 - Ewigkeitssonntag
Die Messingkugel ist zehn Kilogramm schwer. Gleichmäßig pendelt sie an einem stabilen, zwanzig Meter langen Seil. Das Pendel ist befestigt an der Decke der Stiftskirche in Loccum. Am schnellsten ist die Kugel am tiefsten Punkt, wenn sie den halben Weg zurückgelegt hat. Dann steigt ihre Bahn wieder an. Sie wird langsamer, bis sie für einen winzigen Moment stehen zu bleiben scheint. Alle Bewegung ist erstorben. Dann nimmt sie wieder Tempo auf, in die entgegengesetzte Richtung. Die Schwingung beginnt von neuem.
Der Ewigkeitssonntag ist so ein Tag, an dem die Zeit für einen Augenblick stillzustehen scheint. Ein Wendepunkt, an dem sich die Richtung wieder ändert. Morgen ist der letzte Sonntag des Kirchenjahres. In einer Woche beginnt mit dem ersten Advent eine neue Zeit.
Die tristen Novemberwochen sind die Zeit der Gedenktage. Zu Allerheiligen und Allerseelen erinnern sich katholische Christen ihrer Verstorbenen, am Ewigkeitssonntag die Evangelischen. Am Volkstrauertag wurde an die Toten der Weltkriege und die Opfer des Nationalsozialismus gemahnt. An diesen Tagen können Erinnerungen wieder aufsteigen: die letzten Tage im Krankenhaus, der Termin beim Bestatter, die Trauerfeier. Und danach häufig die Einsamkeit. An den Gedenktagen kommt die Familie wieder zusammen. Man geht zum Grab, mit einem Gesteck oder einem Grablicht. Und tauscht die Erinnerungen aus.
Am Ende dieser Trauertage legt sich bei mir manchmal ein Schatten auf die Seele. Der Tod scheint allgegenwärtig: In der entlaubten Natur, in der Länge der Nächte, und eben auch in den Gedanken. Das Leben scheint seine Energie zu verlieren – wie das Pendel kurz vor dem Wendepunkt.
Beim Pendel geschieht der Umschlag ganz von selbst: Es nimmt wieder Bewegung auf. Gewinnt an Geschwindigkeit. Und zwar in die entgegengesetzte Richtung. Im Advent habe ich ähnliche Erfahrungen gemacht. Wie von selbst gewinnt das Leben wieder an Energie: die Lichter in den Straßen und auf den Kränzen, die kalorienreichen Köstlichkeiten aus dem Ofen. Und je mehr der Advent an Tempo gewinnt, desto stärker spürt es auch meine Seele: Gott überlässt diese Welt nicht der Erstarrung. Sondern er belebt die Menschen von neuem, die von Trauer und Tod gefangen waren.
Dr. Sven Keppler ist Pfarrer der Evangelisch-lutherischen Kirchengemeinde Versmold