Andacht zum 20. Sonntag nach Trinitatis, 18. Oktober 2015
Weg ins Freie
70 Jahre ist es her, seit Vertreter der evangelischen Kirche in Stuttgart zusammenkamen. Dieses Treffen am 18. Und 19. Oktober 1945 hatte Signalwirkung, weil es nach innen wie nach außen hin für den Aufbau einer neuen Kirchlichen Struktur die verschiedenen Ausrichtungen zusammenbrachte. Als das Deutsche Reich am 8. Und 9. Mai 1945 kapitulierte, hinterließ es nicht nur ein zerstörtes Land, sondern auch viele Landeskirchen galten als „zerstört“. Wie sollte sich die Kirche zukünftig neu organisieren – das war eine der Fragen, die von den Leitenden gestellt wurde.
Noch deutlicher stand aber die Frage im Raum: Wo haben wir als evangelische Kirche versagt und uns mit schuldig gemacht an dem Erstarken der Nationalsozialistischen Herrschaft? Wo haben wir zu den Grausamkeiten geschwiegen?
Wohl auf Betreiben der ökumenischen Gäste ist die Frage der Neuorientierung unter Einbeziehung eines Schuldbekenntnisses ins Zentrum dieser Versammlung gerückt. Überhaupt haben die Alliierten eine solche Zusammenkunft erst möglich gemacht.
Die Quellen belegen wie schwer sich die damalige Kirche tat, von Schuld zu reden, die auch den Blick auf die Grausamkeiten einschloss, die in den überfallenen Ländern begangen worden waren.
Neben Dietrich Bonhoeffer und Martin Niemöller waren es wenige, die schon recht früh die Schuldfrage in das Blickfeld rückte. Bereits 1933 formuliert Bonhoeffer vorausschauend in einem Aufsatz: „Nur wer für die Juden schreit, darf auch gregorianisch singen.“
Ist es nicht bezeichnend, dass wir uns als Kirche mit der eigenen Schuld so schwer tun?
Manche behaupten die Kirche habe die Schuld gar erst erfunden.
Um das eigene Handeln oder eine Unterlassung als Schuld zu begreifen, braucht es manchmal den Anstoß von außen. So war es vor 70 Jahren. So kann es in unserem bescheidenen Alltagsleben ebenfalls sein. Das Bekenntnis zu meinem eigenen Unterlassen und die Erkenntnis schuldig geworden, ist ja auch bei uns manchmal ein langer Weg. Auf die Frage der Schuld antwortet die biblische Überlieferung mit dem Zuspruch der Vergebung. Das ist meine tiefste Überzeugung: Die Kirche hat nicht die Schuld erfunden, wohl aber hat das Evangelium die Befreiung von Schuld zum Thema und die Kirche hat davon zu reden.
Über das Eingestehen der eigenen Schuld führt der Weg ins Freie. Das war der Weg vor 70 Jahren, das kann auch der heutige Weg sein.
Manchmal zögere ich, ob wir denn als Kirche aus dieser Geschichte gelernt haben und heute sensibler gegen Strömungen vorgehen, die andere ausgrenzen oder sie um ihres Glaubens willen oder ihrer Religion oder Rasse verfolgen.
Ich wünsche mir eine Kirche, die ihre Zeitgenossenschaft sorgfältig ausübt.
Einen gesegneten Sonntag
Ihr
Walter Hempelmann
von Walter Hempelmann, Superintendent im Evangelischen Kirchenkreis Halle