Andacht zum 07. März 2021

Andacht zum Sonntag Okuli, 07. März 2021

„Gib ihm noch ein Jahr!“ - 

So fällt der Gärtner dem enttäuschten Weinbergbesitzer in den Arm. Er will den Feigenbaum inmitten seines Weinbergs fällen. Schon das dritte Jahr in Folge trägt er keine Frucht. Der Unternehmer sieht seine Bilanz gefährdet: „Was steht er nur und entzieht dem Boden die Kraft, ohne mir Gewinn zu bringen? So hau ihn ab!“

Der Gärtner aber, der die Pflanzung bewacht, sieht die ökologischen Zusammenhänge. „Ich kann noch einmal um ihn herum graben und ihn düngen. Vielleicht wird er im nächsten Jahr Frucht bringen. Wenn aber nicht, so hau ihn ab.“

Dies kleine Gleichnis Jesu im Lukasevangelium, Kapitel 13, wird meist als Aufforderung verstanden, einen besseren Weg einzuschlagen. Der Baum ist es, der sich innerhalb einer Gnadenfrist ändern soll. Im März 2021 frage ich mich, wer es ist, der sich ändern sollte?

Wir bewundern die Überlebenskunst der Bäume. Ihre zähen Versuche, mit dem bisschen für ihre Wurzeln erreichbaren Wasser zu haushalten. Oft ist es zu wenig für einen Harzschild gegen die Armada der Schädlinge. Mancher Baum steckt im letzten Jahr, bevor er eingeht, im Todeskampf alle Kraft in seine Früchte. Noch im Sterben beschattet er seine Sämlinge, nährt sie durch den Boden und segnet sie so für ihren Lebensweg als Individuen: Fünf Linden vor unserer Haustür - aber eine wirft ihr Laub immer erst zwei Wochen später ab. 

Wir Menschen sind Individuen wie sie: Was haben wir nach einem Jahr Corona-Stress und in allmählich wachsender Erkenntnis der Klimakatastrophe, in der wir stecken, über uns selbst gelernt? Haben wir noch die innere Geduld, jemanden in seinem Sosein zu lassen? Etwas zuzulassen, das uns nicht in die wirtschaftliche Rechnung passt? Wachstum um jeden Preis, Ausdehnung, soweit es irgend geht. Sind das noch unsere zukunftsfähigen Schutzschilde? Reicht uns ein Jahr Gnadenfrist, um uns auf einen besseren Weg zu besinnen? 

Danke für kleine Zeichen, die wir in diesen Tagen entdecken, auch in Halle, dass es anders gehen kann: „Gib ihm noch ein Jahr!“

Anja Keppler ist Pfarrerin in der Ev.-Luth. Kirchengemeinde Versmold