Andacht zum vorletzten Sonntag des Kirchenjahres, 13. November 2016
„Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen.”
Mit diesen Worten begann die Reformation. Nicht vor 500, sondern vor 830 Jahren, nicht in Deutschland, sondern in Frankreich, nicht durch einen Mönch und Theologen, sondern durch einen Laien, der seine Kirche liebte wie auch Luther 330 Jahre später: Valdes, später Petrus Waldus genannt.
1180 hatte die Kirche schon eine lange Tradition. Sie gründete sich auf Mose und die Propheten und die Lehren Jesu. Dann kamen die Briefe der Apostel und die Evangelien dazu; das Neue Testament entstand. Die Kirchenväter, Konzilien, Synoden – alle trugen dazu bei, dass nach 1000 Jahren eine große Sammlung von Lehrsätzen bestand, die von den Theologen verwaltet und erweitert wurde.
Und dann kam Valdes. Er war als erfolgreicher Händler zu viel Geld gekommen, und ließ sich das Neue Testament aus Latein in seine Muttersprache übersetzen. Begierig las er. Ganz frisch und neu hörte er das Evangelium. Er las von der Vergebung, die kein Geld kostet, von der Buße, die nicht nur das Vergangene beweint, sondern zu einem neuen Lebenswandel führt. Er las von der Aussendung der Jünger und zog dann selbst als Wanderprediger umher, predigte das Evangelium und kümmerte sich um Kranke und Schwache.
Schnell fühlten die Priester sich bedroht: Der Ablasshandel, der schon damals angefangen hatte, litt, weil Vergebung nun frei zu bekommen war. Der Aufruf zu einem neuen Kreuzzug fand keinen Anklang, weil das Volk nun von der Bergpredigt wusste, dass man seine Feinde lieben, und nicht töten sollte. Valdes und den Armen Christi, wie die Gruppe sich nannte, wurde das Predigen verboten.
Er reiste nach Rom und bat den Papst, dessen höchste Autorität er anerkannte, um Predigterlaubnis. Er bekam sie auch – aber der Ortsbischof hatte das letzte Sagen. Der verbannte die Armen Christi aus Lyon. Da zitierte Valdes den Satz aus der Apostelgeschichte: „Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen.“
Zum ersten Mal stellte jemand die Bibel in Gegensatz zu den Dogmen. Zum ersten Mal in der Geschichte von 1000 Jahren dachte ein Christ über den Konflikt zwischen Glauben und Gewissen nach. Hätte er das Neue Testament nicht selbst lesen können, wäre er nicht in diesen Konflikt gekommen. Doch nun gingen ihm – wie 330 Jahre später auch Luther – die Augen auf.
Ich wünsche Ihnen viele überraschende, befreiende Erkenntnisse beim Bibellesen im Reformationsjubiläumsjahr.
von Kirsten Potz, Regionalpfarrerin für Mission, Ökumene und kirchliche Weltverantwortung