Wort zum 28. März 2020

Einschränkungen

„Jetzt … begreife ich, welch großes Glück die Normalität ist. Ich sehe durchs Fenster des Krankenzimmers auf der gegenüberliegenden Straßenseite die Menschen scheinbar voraussetzungslos gehen. Einen Schritt nach dem anderen. Die einen schlendern, die anderen hasten, wieder andere flanieren oder sind ins Gespräch vertieft. Keiner begreift, welches Glück es ist, einen Fuß vor den anderen setzen zu können.“ (Norbert Blüm, Zeit 12.3.2020, S. 69) Das sagt jemand, der nach einer Blutvergiftung von den Schultern an abwärts gelähmt ist und nicht mehr kann, was alle Menschen um ihn herum selbstverständlich können. Selbst das Atmen ist für ihn mit einer großen Willensanstrengung verbunden.
„Die normalen Verhältnisse bieten ein Potenzial an Lust, das wir erst zu schätzen wissen, wenn wir es verloren haben.“
In der Theorie wissen wir das alle und wahrscheinlich kann sich jede und jeder an Zeiten der Krankheit erinnern, in denen wir mit Einschränkungen leben mussten und plötzlich nicht nur theoretisch, sondern mit unserem ganzen Selbst verstanden haben, wie wunderbar und kostbar es ist, wenn wir selbstbestimmt und frei das tun können, was wir wollen: gehen, essen, sprechen, lesen, schlafen…
Gebt mir mein Leben zurück, heißt es in einem Lied aus dem Jahr 2017.
Von mir weiß ich, wie ungeduldig ich in Ausnahmezeiten genau das will: mein altes Leben zurück haben… und wie schnell ich danach wieder vergesse, was ich doch meinte, für immer begriffen zu haben.
Diese Wochen sind mit ihren drastischen Einschränkungen für alle Ausnahmewochen. Das kann die Ungeduld fördern, möglichst schnell das alte Leben zurück zu bekommen. Es kann uns auch die Weisheit lehren, die nur der gewinnt, der die Grenzen nicht verdrängt. Du, der Du mit uns/ von Ewigkeit zu Ewigkeit/ lebst,/ lehr uns das Zählwerk/ eines weisen Herzens,/ das jeden neuen Tag/ als Morgengabe deiner Fülle/ nimmt/ mit Splittern aus Gram/ mit Splittern aus Glück. ( Petra Fietzek zu Psalm 90, 12)

Von Pfarrerin Christiane Becker, Loxten