Ein halbes Brot
Als der Arzt Professor Dr. Breitenbach gestorben war, gingen seine Töchter daran, das Erbe ihres Vaters zu verteilen. Beim Aufräumen fanden sie auch ein in graues Seidenpapier eingewickeltes, steinhart gewordenes halbes Brot.
Die Haushälterin erinnerte sich, warum der Professor das Brot aufgehoben hatte. Sie berichtete von der schweren Zeit nach dem Krieg. Alle litten Hunger. Und der Professor war damals krank und erschöpft. Die Arbeit für die Patienten und das knappe Essen... Die Ärzte sagten: "Er braucht unbedingt etwas Kräftiges zu essen!" Aber woher nehmen in diesen Zeiten? Als er von einem Bekannten ein halbes, gutes Brot geschickt bekam, hat er sich zwar gefreut, aber es nicht gegessen.
Er hat sich erinnert an die Tochter des Lehrers, die krank vor Hunger im Nachbarhaus lag.
„Das junge Leben braucht das Brot nötiger,“ hat er gesagt und das Brot zur Lehrerfamilie bringen lassen. Aber auch die Tochter hat es nicht gegessen. Diese hatte sich an die Flüchtlingsfrau erinnert, die im Dachgeschoss ein Notquartier gefunden hatte und gemeint, dass sie wohl das Brot noch dringender brauchen könnte. Aber auch diese Frau hat das Brot nicht behalten. Sie hat wiederum an die Frau mit den drei kleinen Kindern gedacht, deren Vater verschollen war und mit der sie sich ein paar Stunden zuvor unterhalten hatte.
Und so landete das Brot ein paar Häuser. Ja, und die Mutter mit den drei Kindern wollte gerade das Brot aufschneiden, da fiel ihr ein, dass sie das Brot als Bezahlung an den Arzt geben könnte, der eines ihrer Kinder gesund gemacht hatte. So ging sie zum Haus des Professors und gab es der Haushälterin als Dankeschön, dass er ihre Kleine wieder gesund gemacht hat. Der Professor erkannte das Brot wieder an der Marke, die unten dran klebte und sagte: „Solange es noch so viel Liebe gibt, dass Menschen trotz aller eigenen Not ein Brot weiterverschenken, statt es selbst zu essen, so lange habe ich keine Angst um uns alle.“ Und auch er hat das Brot dann nicht gegessen, sondern es aufgehoben bis zu seinem Tod.
Ich wünsche Ihnen, dass Sie in diesen schweren, beängstigenden Tagen immer wieder neu etwas von der oben beschriebenen Liebe in Ihrem Leben erfahren, durch eine hilfreiche Hand, einen netten Anruf, eine gut gemeinte Ermahnung.
Ich hoffe, dass Sie anderen von Ihrer Liebe abgeben können. Bleiben Sie Zuhause, aber resignieren Sie nicht. Bleiben Sie informiert, lesen Sie ein Buch, seien Sie Anrufer*in, was auch immer.
Und spüren Sie durch alle düsteren Prognosen hindurch die Liebe Gottes. Trotzdem!
Ihr Dirk Leiendecker, Pfarrer in Versmold