Wort zum 20. April 2020

Ich erinnere mich noch gern an das Jahr 2003, das zum Jahr der Bibel ausgerufen worden war. In der Gemeinde, in der ich damals tätig war, beschlossen wir, eine Bibelausstellung zu veranstalten und dafür Gemeindeglieder zu bitten, uns Bibeln oder alte Gesang- und Gebetbücher zur Verfügung zu stellen. Anfangs skeptisch, ob überhaupt etwas zusammenkommen würde, war ich überwältigt von dem Run, den der Aufruf in Bewegung gesetzt hatte. Jahrhunderte alte Bücher trafen ein und eine Bibelsammlung, bei der jede Bibel ihre eigene Geschichte hatte.

Eine Bibel fiel besonders auf. Es war ein kleines abgegriffenes Buch, das bei jeder Berührung auseinanderzufallen drohte. Eine russische Familie, die in den 1990ern nach Deutschland ausgesiedelt war, hatte sie mitgebracht. In der Zeit, in der religiöse Betätigungen von Verhaftung und Lebensgefahr bedroht waren, war diese Bibel für eine Familie, ihre Verwandten und Freunde der einzige Halt. Verpackt und vergraben an einem Baum unter härtesten Witterungsbedingungen wurde sie zu gottesdienstlichen Gemeinschaften im Haus der Familie hervorgeholt. Heimlich und immer in der Gefahr entdeckt zu werden. Die Gläubigen lasen aus dem Wort Gottes und holten sich Kraft für ihr hartes und gefährdetes Leben. „Gott hat immer geholfen.“ So stellte das fast 90jährige Familienoberhaupt die Bibel vor. Klar, dass dieses Buch auch in der neuen Heimat die Familie im Glauben zusammenhalten sollte.

Wenn ich heute in den Versmolder Schulen Schüler*innen im Fach Religion unterrichte, steht die biblische Botschaft immer im Zentrum. Ich lade gerne die Schüler*innen ein, die Bibel in die Hand zu nehmen, die, wenn man mit dem Herzen liest, auf jede Frage und Krise hilfreiche Hinweise enthält. Wer in der Bibel liest, gibt Gott die Chance, mit seinem Wort heilbringend in unser Leben einzugreifen.

Für mich ist jedes Jahr ein Jahr der Bibel. Denn die Botschaft von der Liebe und Menschenfreundlichkeit Gottes ist immer aktuell und hat kein Verfallsdatum. Die alte Bibel aus Russland erinnert mich daran immer neu.

Von Rüdiger Schwulst, Pfarrer für Religionsunterricht an den Schulen des CJD in Versmold