Andacht vom 01. November 2015

 

Wort zum 22. Sonntag nach Trinitatis, 01. November 2015

„Ich will dich segnen, und du sollst ein Segen sein.“ – 1.Mose 12,2

Ein Vater und seine Tochter umarmten sich herzlich am Flughafen. Schließlich wurde es Zeit für die Tochter, durch das Gate zu gehen.

„Ich liebe dich. Ich wünsche dir ausreichend!“ sagte der Vater zu seiner Tochter.
„Ich liebe dich auch, Papa. Ich wünsche dir ausreichend!“
Ein Passagier, der in der Nähe stand, konnte es nicht bleiben lassen, sich zu erkundigen, was es zu bedeuten hätte, dass sie einander „ausreichend“ wünschten.

„Das ist ein Wunsch, der in unserer Familie von Generation zu Generation weitergegeben wurde“, antwortete der Mann. „Es bedeutet:
Ich wünsche dir ausreichend viel Sonne, damit dein Leben hell sein möge.
Ich wünsche dir ausreichend viel Regen, damit du die Sonne schätzen kannst.
Ich wünsche dir ausreichend viel Glück, damit du deine Lebenslust bewahren mögest.
Ich wünsche dir ausreichend viel Sorge, sodass selbst kleine Freuden dir groß vorkommen mögen.
Ich wünsche dir ausreichend viel Gewinn, sodass du alles bekommen mögest, was du brauchst.
Ich wünsche dir ausreichend viel Verlust, damit du alles, was du hast, schätzen kannst.
Ich wünsche dir, dass du ausreichend oft willkommen geheißen wirst, sodass du mit dem letztgültigen Abschied fertig werden kannst.“

An diese kleine Geschichte aus dem Buch „Ich habe nach dir gewonnen“ von Kristina Reftel musste ich beim Blick auf den Bibelvers  denken, der für mich zu den eindrücklichsten in der Bibel gehört.  

Ja, ich glaube sagen zu können, dass ich in meinem bisherigen Leben immer „ausreichend“ hatte: liebevolle, stets besorgte, viele Wünsche erfüllende Eltern, die mich auf einen guten Weg gestellt haben; eine Familie, wie ich sie mir nicht besser vorstellen kann; einen Beruf, der mich erfüllt; das Auskommen mit dem Einkommen. Auch Sorgen waren da und Verluste hat es gegeben, die wehgetan haben. Fast 58 Jahre dankbaren Blickes zurück. 58 Jahre, in denen ich immer wieder neu Gottes Segen spüren durfte, seinen Schutz, seine Bewahrung. Gott war für mich wegweisend, und eigentlich hatte ich stets mehr als „ausreichend“, hatte ich „sehr gut“.

Aber wie steht’s mit dem zweiten Teil des Verses? Ich glaube, da habe ich Nachholbedarf. Gerade beim Blick auf das mich so stark berührende Flüchtlingselend wird mir bewusst, wie „ausreichend“ ich habe und will nach Möglichkeiten suchen, selber Segen sein zu können.
Wie gut zu merken, dass ich mit meinen Gedanken nicht alleine bin, dass ganz viele so „ausreichend“ haben, dass sie schon Segen sind.

von Dirk Leiendecker, Pfarrer der Evangelisch-Lutherischen Kirchengemeinde Versmold