Andacht vom 07. April 2019

Wort zum Sonntag Judika, 07. April 2019

„Eigentlich wollte ich ein Fahrrad“, erzählt der Kollege. Er bekam eine Bibel. Schon damals wirkte sie altmodisch: hauchdünne Seiten, in schwarzes Leder gebunden, Goldschnitt. Die Enttäuschung über das Fahrrad, das er nicht bekam, ist ihm noch 50 Jahre später anzumerken. Trotzdem fing er an zu lesen. Das Buch begann ihn zu faszinieren. Es hat ihn überall hin begleitet. Wohl täglich hat er darin gelesen, hier einen Kommentar an den Rand geschrieben, dort vermerkt, wo er die entsprechende Stelle gelesen hat. Heute sieht er es mit anderen Augen. 1.800 einzigartige Seiten, sagt er, jede ist anders als die andere. Einzelne haben Eselsohren oder sind eingerissen, manche haben Flecken. Er fragt sich: Was wäre aus diesem Buch geworden, wenn die 1.800 Seiten eine Loseblattsammlung gewesen wären und nicht von einem festen, widerstandsfähigen Einband zusammengehalten? Er zeigt auf den Goldschnitt, der auch gelitten hat, jedoch noch Glanz hat. Die Seiten glänzen aber nur im Verbund. Der Rand jeder einzelnen ist blass, fast farblos.

Als er mir seine Bibel-Geschichte erzählt, denke ich: Ist es mit Menschen nicht genauso? Einzeln leicht verletzlich, in der Gemeinschaft aber stark. Da sind wir geschützt und können sogar glänzen. Auch wenn uns im Laufe der Zeit manches Erlebnis ganz schön mitnimmt. Ich wünsche Ihnen, dass Sie so mitgenommen werden: Eingebunden in eine Gemeinschaft, die Ihnen Halt und Sicherheit gibt. Und auch, dass Sie andere einbinden. Egal, woher sie kommen, wer oder wie sie sind. Geben Sie uns eine Chance, zusammen zu glänzen. Unsere Heimat darf keine Loseblattsammlung werden. Denken Sie bei der Europawahl im Mai daran.

Wer in so einer Bibel zu lesen anfängt, wie mein Kollege es tat, wird darin einzigartige Texte entdecken. Sie stammen aus dem Nahen Osten, Afrika, Südosteuropa. Sie erzählen Geschichten von Menschen in Bewegung, von Flucht und Verfolgung, von Grausamkeiten und Menschlichkeit, von ihren Erfahrungen mit Gott. Das Buch ermutigt zu glauben, dass jede und jeder Einzelne gehalten wird von Gott und der Gemeinschaft derer, die sich auf ihn verlassen.

von Kirsten Potz, Pfarrerin für Mission, Ökumene und kirchliche Weltverantwortung, Bielefeld