Andacht vom 23. Februar 2020

Wort zum Sonntag Estomihi, 01. März 2020

Venedig
Seit Monaten erzählt mir Marcel sein Leben. Seine Kindheit in der französischen Provinz. Später die Jahre in den Pariser Salons. Seine unglückliche Liebe und seine Eifersucht. Marcel ist der Erzähler des großen Romans von Marcel Proust: „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“, den ich mir als Hörbuch vorlesen lasse.
Schon als Junge hatte Marcel von Venedig geträumt: „Die Anschauung von Venedig, die ich einer Handzeichnung Tizians verdankte, deren Hintergrund die Lagune vorstellen soll, war weit ungenauer als gewöhnliche Photographien sie mir vermittelt hätten.“ Venedig war in Marcels Phantasie nicht nur eine Stadt. Es war etwas Bedeutenderes. Ein Ort der Sehnsucht und der Erlösung. „Ich sah dabei keineswegs eine Stadt vor mir, sondern etwas ebensosehr von allem, was mir vertraut war, Unterschiedenes und ebenso Köstliches, wie für eine Menschheit, deren Leben einzig in der Atmosphäre später Winternachmittage verlaufen wäre, das Wunder eines Frühlingsmorgens hätte bedeuten müssen.“
Neulich habe ich mit Fieber das Bett gehütet. Wieder einmal lief das Hörbuch mit Marcels Erinnerungen. Gerade trauerte er über den Tod seiner Freundin. Quälte sich mit seiner Eifersucht, die auch nach dem Tod der jungen Frau nicht erloschen war. Die ausgeglichene Stimme des Sprechers floss melodisch dahin. Doch plötzlich verändert sich sein Ton. Er spricht von Venedig. Ich brauche etwas Zeit, bis ich begreife: Ich muss beim Zuhören eingeschlafen sein. War sanft ausgestiegen, als Marcel vom Tod sprach. Und erst wieder aufgewacht, als er mit seiner Erzählung schon in Venedig angekommen war. In der Stadt, die ihm immer wie ein Paradies erschienen war.
Vielleicht kann so ein tröstliches Sterben aussehen. Ich schlafe ein, ohne es zu merken. Und erwache an einem paradiesischen Ort. Einer Gegend, von der ich lange geträumt habe. Von der ich nur ungenaue Bilder vor Augen hatte. Und die nun wie ein Frühlingsmorgen ist für jemanden, der bislang nur Winterabende kannte. So erwärmend wünsche ich mir das neue Leben in der Nähe Gottes.

Dr. Sven Keppler ist Pfarrer in der Evangelisch-Lutherischen Kirchengemeinde Versmold