Andacht vom 18. September 2011

18. September 2011 - 13. Sonntag nach Trinitatis

Leben im Labyrinth

Liebe Leserin, lieber Leser,

Sie kennen vielleicht das Labyrinth von Chartres, das im Original den Fußboden der Kathedrale von Chartres ziert. Die Pilger, die in dieses Labyrinth eintraten, mussten einen Weg von mehr als 200 Metern zurücklegen, um zum Zielpunkt in der Mitte zu gelangen.Labyrinthe sind Sinnbilder für Unübersichtlichkeit, Verlust an Orientierung. Wer sich ins Labyrinth hineinbegibt, wird Fragen stellen: Wo befinde ich mich jetzt? Auf welches Ziel will ich hinaus? Warum habe ich mich auf diesen Weg eingelassen?Wo sind die anderen Menschen im Labyrinth? Woher nehme ich die Kraft für den nächsten Schritt?

Labyrinthe machen uns Angst... Das gilt auch für das berühmte Labyrinth von Chartres. Jedoch eröffnet dieses besondere Labyrinth auch ermutigende Perspektiven auf unser Leben.

Beim Labyrinth von Chartres ist es wichtig, zwischen der Binnenperspektive des Pilgers und der Vogelperspektive von uns, den Betrachtern, zu unterscheiden. Der Wanderer im Labyrinth kann nicht mehr tun, als einen Schritt vor den nächsten zu setzen. Sein Blick reicht nicht weiter als bis zur nächsten Biegung. Er sieht nicht das Ganze, nicht das Ziel. Sein Weg ist Einübung ins Vertrauen. Wir dagegen, die wir das Labyrinth von oben sehen, machen eine ganz andere Erfahrung. Der Blick des Betrachters fällt sofort auf das Ziel, die Mitte. Wir behalten es immer im Auge, auch wenn wir versuchen, den Weg dorthin in Gedanken abzuschreiten.

Genau so verhält es sich mit dem Weg meines Lebens und Gottes „Blick“ darauf. Ich bin der Pilger im Labyrinth. Einen Schritt setze ich vor den anderen, nicht wissend, was kommen wird. Das Ziel ist fern, ich sehe es nicht. Bei Gott aber ist das anders. Er sieht mich, den Wanderer im Labyrinth, gleichsam von oben. Er kennt meinen Standort, meinen Weg, mein Ziel. Er behält das Ganze meines Lebens im Blick und verliert mich nicht aus den Augen.

Eine zweite Beobachtung: Das Besondere am Labyrinth von Chartres ist, dass man sich nicht darin verlaufen kann. Der Pilger bleibt immer auf dem Weg zur Mitte. Das Labyrinth hat unvermutete Kurven. Auch gibt es keine Abkürzungen. Der Weg jedoch endet nicht in einer Sackgasse, auch nicht im Niemandsland.

Das Labyrinth von Chartres ist hierin eine Ermutigung im Glauben. Mein Lebensweg mag reich sein an Kurven und Beschwernissen. Kraft und Mut mögen mich manches Mal verlassen. Das Ziel meines Weges aber ist gewiss, und ich kann es nicht verfehlen: Es ist Gott selbst. Er kommt uns entgegen mit ausgebreiteten Armen wie der gütige Vater im Gleichnis vom verlorenen Sohn. Lasten, die wir zu tragen haben, werden dadurch nicht von uns genommen. Aber die Schritte durch das Labyrinth des Lebens werden leichter, fester, gewinnen von Mal zu Mal an Zuversicht.

Das Labyrinth können Sie hier betrachten.

 

Pfarrer Thilo Holzmüller ist Schulreferent für die Kirchenkreise Gütersloh und Halle.