Wort zum Sonntag Exaudi, 24. Mai 2020
Ist Gott selbstverständlich? „Wir tun viel zu sicher“, antwortet der Schweizer Theologe Karl Barth (1886-1968) in einer seiner Predigten auf diese Frage. Das Wort „selbstverständlich“ hat momentan einen eher unsicheren Unterton bekommen und stellt plötzlich vertraute Gewohnheiten und Ord-nungen auf den Prüfstand.
Gute Alltäglichkeiten, etwa eine Fußballkarte oder das Bedient werden in einem Restaurant schei-nen in ein anderes Licht zu geraten. Man kann sie anstaunen. So wie man Gott anstaunen kann oder die Wahrheit oder das Wunder einer Geburt. Sogar ein gutes Wort oder ein Stück Brot sättigt anders.
Manches muss man von Zeit zu Zeit der verhängnisvollen Macht der Gewohnheit entreißen. Viele sehr irdische Gedanken und Dinge werden einfacher, klarer oder sogar kostbarer, wenn man sie wieder so zu lesen versucht, als seien sie neu wie am ersten Tag.
Der Verlust lebensdienlicher Selbstverständlichkeiten hat Dietrich Bonhoeffer während seiner Haft-zeit dazu bewogen, alles noch so alltägliche immer wieder kindlich zu „bewundern“. So gesehen erscheint etwa der morgendliche Gesang einer Amsel vor dem Fenster schier unbegreiflich. In sei-nen Aufzeichnungen („Widerstand und Ergebung“) hat er die „helle Betroffenheit“, die das Staunen auszulösen vermag, nachdenklich zusammengefasst: „Wir sind aufgewachsen in der Erfahrung unserer Eltern und Großeltern, der Mensch könne und müsse sein Leben selbst planen, aufbauen, gestalten. Es gebe ein Lebensziel, zu dem der Mensch sich entschließen und das er dann mit ganzer Kraft auszuführen habe und auch vermöge. Es ist aber unsere Erfahrung geworden, dass wir nicht einmal für den kommenden Tag zu planen vermögen, dass das Aufgebaute über Nacht zerstört wird und unser Leben, im Unterschied zu dem unserer Eltern, gestaltlos oder doch brüchig geworden ist.“ Bonhoeffer wird nicht müde, in den „Bruchstücken“ des eigenen Lebens Gottes Gegenwart immer von neuem zum Leuchten zu bringen.
Sicher ist es eine gute Übung, sich selbst immer wieder in die kleinsten Kleinigkeiten eines neu geschenkten Tages hinein zu staunen wie in das allergrößte Wunder: Gott ist nicht selbstverständ-lich. Aber er ist gegenwärtig!
Matthias Storck ist Pfarrer in der Ev. Kirchenkreis Halle