Wort zum Sonntag Rogate, 17. Mai 2020
Was Hänschen nicht lernt…?
„Homeoffice“ – das ist im Pfarrhaus die Regel, und „homework = Hausaufgaben“ – das kennen alle. Aber „homeschooling“ = Hausunterricht? Daran haben sich alle Familien von heute auf morgen gewöhnen müssen. „Das musst du so machen…“– „Du bist aber nicht meine Lehrerin!“ So endete am Anfang jeder zweite Versuch, etwas mit meinen Worten zu erklären. Inzwischen sind beide Seiten nachgiebiger.
Ich habe Zusammenhänge und Methoden kennen gelernt, die mir neu waren. Wissen Sie, was eine Weiselzelle ist? 3. Klasse – die Zelle, in der eine Bienenkönigin heranwächst. Oder wie man Quartile berechnet, um einen Boxplot zu erstellen? 6. Klasse – kann ich so schnell nicht erklären. Ich gebe zu, das hat „Ännchen“ nicht gelernt… Das Sprichwort von Hänschen und Hans hat Martin Luther in seinen Tischreden geprägt, als er den anwesenden Studenten empfahl, ihre Zeit zu nutzen, um mit Hilfe ihrer Lehrer intensiv zu lernen. Ihm ging es nicht darum, dass wir Älteren nicht mehr „frisch genug“ wären. Sondern, dass uns Älteren oft Zeit fehle, sich intensiv mit etwas Neuem zu beschäftigen. Das Lernen als Privileg der Jugend.
Die Reformatoren fragten, wie Menschen gut lernen – dabei ging es nicht nur um die Bibel, sondern auch um die Entwicklung der Persönlichkeit. Dass die eigenen Eltern einem Kind alles Nötige beibringen, „homeschooling by doing“, war damals die Regel. Luther, Bugenhagen und andere aber ermunterten zu gemeinsamem, strukturiertem Unterricht und zu Schulen für Jungen und oft auch für Mädchen. Aber erst 1919 kam in Deutschland die Allgemeine Schulpflicht auf. 2020 nun plötzlich ein großes Experiment – häuslicher Unterricht für alle.
Wer sagt’s denn: Hänschen und Hans lernen gemeinsam. Quartile? Boxplot? Bienenkönigin. Für beide Seiten ist das gemeinsame Lernen ein überraschender Gewinn.
Anja Keppler ist Pfarrerin in der Ev.-Luth. Kirchengemeinde Versmold