Andacht vom 14. Oktober 2018

Wort zum 20. Sonntag nach Trinitatis, 14. Oktober 2018

Herbst

Die Blätter fallen, fallen wie von weit,
als welkten in den Himmeln ferne Gärten;
sie fallen mit verneinender Gebärde.

Und in den Nächten fällt die schwere Erde
aus allen Sternen in die Einsamkeit.

Wir alle fallen. Diese Hand da fällt.
Und sieh dir andre an: es ist in allen.

Und doch ist Einer, welcher dieses Fallen
unendlich sanft in seinen Händen hält.

(Rainer Maria Rilke)

Liebe Leserin, lieber Leser,

dieses Herbstgedicht von Rainer Maria Rilke lese ich immer wieder gern, wenn ich die Blätter draußen fallen sehe und die ersten frostigen Nächte erlebe. Es gefällt mir, weil es das Fallen der Blätter sinnbildlich auf alles Leben hin deutet und am Ende tröstlich mit Gott in Beziehung setzt. Alles Leben ist im Fall  begriffen. Es verliert an Kraft, sinkt langsam dahin, stirbt. Das Leben wehrt sich gegen diesen unaufhaltsamen Prozess. Es fällt schwer, ihn zu akzeptieren. Die Blätter „fallen mit verneinender Gebärde“, schreibt Rilke in seinem Gedicht. Sie sträuben sich gegen die Bewegung des Falls, kreisen langsam und schwankend zu Boden, ohne die Abwärtsbewegung aufhalten zu können. Das Schwergewicht des Falls ist schließlich stärker als alle sich dagegen aufbäumenden Kräfte des Lebens.

Das Herbstgedicht von Rainer Maria Rilke ist kein explizit christliches Gedicht. Und doch trägt es, vor allem in der letzten Strophe, deutlich religiöse Züge, die sich einer christlichen Lesart jedenfalls nicht verschließen. Obwohl Rilke das Wort „Gott“ vermeidet und stattdessen von dem „Einen“ spricht, hat es eine tröstliche Botschaft, die sich vom christlichen Glauben her füllen lässt.

Die Bewegung des Falls, das Dahinsinken und Sterben, verliert sich nicht in eine unausdenkliche Tiefe des Nichts. Es ist gehalten, unterfangen von den tragenden Händen des Einen, Gottes, des Schöpfers und Erlösers. Sterben und Tod sind durchmessen von Gott selber im gekreuzigten Christus und führen zu ihm. Der Macht des Todes ist damit eine Grenze gesetzt. Das Versinken in Trauer, Verzweiflung und Einsamkeit ist nicht bodenlos. Nicht immer ist das Gehaltenwerden von Gott unmittelbar zu spüren, es geschieht „unendlich sanft“. Und doch sind Gottes Hände ein zuverlässig tragender Grund. Dies ist die Botschaft des biblischen Evangeliums.

Sie steht so nicht in dem Gedicht von Rilke und hätte in der Lyrik des Dichters auch nicht ihren Ort. Doch große Lyrik lädt dazu ein, Gedankenkreise miteinander zu verweben. Und so lese ich das Gedicht in dieser Perspektive. Im Lichte der biblischen Auferstehungsbotschaft kann es zu einem Zuspruch der Liebe Gottes in finsteren Momenten des Lebens werden.

von Pfarrer Thilo Holzmüller, Schulreferent des Evangelischen Kirchenkreises Halle