HALLE – Es ist ein grauer, kalter und regnerischer Montagmorgen, als Künstler Gunter Demnig die Pflastersteine aus dem Gehweg von den Häusern Lange Straße 25 und 61 bricht und die „Stolpersteine“, Steinquader mit Messingplatten, einbettet. Es ist still, bis auf die Verkehrsgeräusche der stark befahrenen Straße, die dumpfen Schläge des Pflasterhammers – und dem Klicken der zahlreichen Kameras. Martin Wiegand von der „Initiative Stolpersteine“ begrüßt etwa 200 Anwesende, unter ihnen drei Nachfahrinnen aus Israel: Eve Isaacson, ihre Tochter Jennifer und Schwiegertochter Theresa. Eve ist die Tochter von Hans Isenberg, der 1936 durch seine Flucht nach Südwestafrika, heute Namibia, dem Naziterror entkam. Bei der sich anschließenden Feierstunde am Mahnmal für die Opfer des Nationalsozialismus wurde der Platz in „Familie-Isenberg“-Platz umbenannt.
Es sind Schülerinnen und Schüler aus einem Geschichtskurs des Kreisgymnasiums, die mit Fotos der elf jüdischen Mitbürger und ihren Leidensgeschichten an das dunkelste Kapitel deutscher Geschichte bewegend erinnern. Eve Isaacson, heute 77 Jahre alt, wird gestützt von ihren beiden Verwandten. Tiefe Betroffenheit, Trauer und rinnende Tränen lassen die tiefe Bewegtheit und den Schmerz erahnen.
Später, bei der Enthüllung des neuen Namens für den Platz im Herzen der Stadt zerreißt es Eve Isaacson fast. Unter Tränen bedankt sich die zierliche Frau für dieses weitere Zeichen lebendiger Erinnerung der Stadt und ihrer Bürger. „Ich freue mich, dass die Stadt Halle die Erinnerung an meine Familie wach hält.“ Bürgermeisterin Anne Rodenbrock-Wesselmann bedankt sich für die in fünf Besuchen von Eve Isaacson gewachsenen Freundschaft und ist sich sicher: „Wer stolpert, schaut hin. Wer hinschaut, erinnert sich. Geschichte nimmt Gestalt an. Unsere Zukunft braucht diese Erinnerung.“
Musikalisch umrahmte der erblindete Klezmer-Klarinettist Daniel Graumann aus Hilter die Gedenkstunde mit jüdischen Weisen. Pfarrer Josef Dieste für den katholischen Pastoralverbund Stockkämpen zeigte sich tief bewegt und wünschte, dass angesichts der Stolpersteine allen Menschen klar werde, dass nie wieder jemand weggeführt werden dürfe. „Ich wünsche den Menschen, die an die Stolpersteine stoßen, Fragen und Gedenken.“ Die Enkeltochter von Hans Isenberg, Jennifer Perach, sprach das jüdische Totengebet in hebräischer Sprache
Der evangelische Synodalvikar Tim Henselmeyer betonte, wie wichtig die Verlegung der Stolpersteine sei und das jeder Stein an ein Menschenleben erinnere. „Unserer Gesellschaft droht das Vergessen, sie verlernt gerade das Gedenken.“ Er warnte vor Leugnungsversuchen, vor fremdenfeindlichen Übergriffen und einer gesellschaftlichen Erinnerungsmüdigkeit. „Dann werden wir fallen!“ Selbstkritisch fragte sich Henselmeyer, ob er den Mut aufgebracht hätte, gegen den Terror einzuschreiten. Doch mache jedes Erinnern die Menschen mutig, gegen Menschenverachtung vorzugehen. Gerade das Ins-Gespräch-kommen mit der „You-tube“-Generation sei jetzt gefragt, so der Theologe.
Jetzt liegen elf Stolpersteine im Haller Pflaster und die Initiativgruppe will weitermachen. Insgesamt hat der Künstler Gunter Demnig über 70 000 Steine in fast 2.000 Orten in Deutschland und 24 weiteren Ländern verlegt. Mit dieser Konzeption der „Stolpersteine“ hat der gebürtige Berliner eine ganz besondere Form der Erinnerungskultur geschaffen. „Ein Mensch ist erst vergessen, wenn sein Name vergessen ist“, zitiert Demnig den Talmud.
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Biografisches aus der Familiengeschichte Isenberg/Isaacson
Im anschließenden Pressegespräch erzählte Eve Isaacson aus ihrer Familiengeschichte. Sie wurde 1942 in Windhoek geboren. Ihren Vater Hans Isenberg, der sich in Pretoria zur Militärausbildung gemeldet hatte und als Soldat in Nordafrika kämpfte, lernte die kleine Eve erst im Alter von vier Jahren kennen. „An dem Tag, als El Alamein gefallen ist (es war der 23. Oktober 1942, Anm. d. Red.), bekam mein Vater den südafrikanischen Pass, bis dahin war meine Familie staatenlos.“ Ihr Großvater mütterlicherseits, Wilhelm Löwenstein, schaffte es 1940, im letzten Augenblick, Deutschland zu verlassen. Eine monatelange Odyssee brachte ihn schließlich nach Nordrhodesien, dem heutigen Sambia.
Der Großvater kam anlässlich der Geburt des kleinen Bruders von Eve nach Namibia. Opa und Enkel sprechen Deutsch miteinander, deshalb ist heute ein Gespräch mit Eve ohne Übersetzer leicht möglich. Der Bruder von Eve ist heute 69 Jahre alt und lebt in Kanada.
Der beste Freund von Hans Isenberg, der Frisör Otto Gabler mit Salon am Gartnischen Weg, hat nach der Deportation der Familie Isenberg das Familienklavier und die Aussteuer der Schwester Klara aus dem Haus an der Lange Straße gerettet.
Eines Tages schreibt er seinem Freund einen Brief und adressiert ihn an: „Hans Isenberg, Afrika“. Unglaublicher Weise kommt der Brief nach dreimonatiger Reise durch vier verschiedene afrikanische Staaten bei Hans Isenberg in Südafrika an. Eves Eltern waren 1972 nach Port Said gezogen. Vater Hans reist ein einziges Mal nach Halle zu seinem Freund Otto. „Das Klavier konnte er ja nicht mitnehmen, aber die Aussteuer meiner Tante wird bis heute in unserer Familie gehütet“, erinnert sich Eve. Hans Isenberg ist 1995 in Südafrika gestorben.
Eve absolvierte ihre Schulzeit in einem Internat in Südafrika. Mit 24 Jahren heiratet Eve und geht mit ihrem Mann Joe nach Israel, um 1975 eine Blumen- und Kräuterfarm zu gründen. Sie bekommen eine Tochter, Jennifer und die beiden Söhne Keith und Brad. Heute freut sich Eve an vier prächtigen Enkelsöhnen.
Der Wunsch von Tochter Jennifer, sich mit den Familienwurzeln auseinander zu setzen, führte im Oktober 2009 zum ersten gemeinsamen, „sehr berührenden“ Besuch, so die Erinnerung der Bürgermeisterin. Seitdem hat sich ein freundschaftliches Band zwischen der Heimatstadt von Großeltern und Vater Hans und den Frauen aus Israel geknüpft. Die Einladung zum Gegenbesuch ist ausgesprochen. (CG)