„Ich verabschiede mich aus dem Dienst mit ganz guten Gefühlen“, sagt Jemand, der auch das Recht hätte, verbittert auf seinen Lebensweg zurückzublicken. Aber Matthias Storck hat eine besondere Sicht auf Menschen, ist dankbar für die Erfahrungen, die er machen musste, und die Hoffnung und den Mut, die ihm der Glaube an Gott gegeben hat – bis auf eine kurze Zeit in seinem Leben. Doch davon später mehr.
Matthias Storck wurde 1956 in der ehemaligen DDR geboren. Sein Großvater war Superintendent, sein Vater Pfarrer und seine Mutter studierte ebenfalls Theologie - schon diese Tatsachen bescherten ihm kein unbeschwertes Schülerleben. So wurde er mit dem Spottwort „Paster“ belegt und im Klassenbuch stand hinter seinem Namen ein „I“ für Intellektuelle, deren Schullaufbahn mit der 10. Klasse endete (im Gegensatz zu „A“ für Arbeiterklasse).
Matthias Storck begann 1973 eine Buchhändlerlehre in Leipzig und erhielt mit einer Sondergenehmigung 1976 die Möglichkeit, in Greifswald Theologie zu studieren. Am 3. Oktober 1979 wurden er und seine spätere Frau Christine auf offener Straße unter dem Vorwurf der versuchten Republikflucht und ihres Engagements gegen den Wehrkundeunterricht verhaftet. Nach acht Monaten Untersuchungshaft in Pankow kam es zur Verhandlung, in der er sich selber verteidigte. Das Urteil: 2 Jahre und 8 Monate Haft. Nach weiteren sechs Monaten wurden er und seine Verlobte aus der Haft in Cottbus von der BRD freigekauft.
Später erfuhr er, dass er von einem Freund, der ebenfalls Pfarrer war, verraten wurde. Außerdem hatten ein Mithäftling, der Gefängnispfarrer und selbst sein eigener Vater die Stasi als Informelle Mitarbeiter mit Informationen versorgt. „Meine Sicht auf die Menschen hat sich durch die Gefängniszeit geändert. Ich sehe den Menschen, nicht die Profession. Man lernt, mit dem Bösen anders umzugehen. Ich habe in dieser Zeit quasi eine billige Ausbildung erhalten, um einen anderen Blick auf Welt zu bekommen“, resümiert er.
Matthias Storck beendete sein Theologiestudium in Münster, wo Dirk Leiendecker, späterer Pfarrer in Versmold, ihm half eine Wohnung zu finden. 1988 trat er eine Pfarrstelle in Kirchlengern an, die er 17 Jahre innehatte, bevor er Pfarrer in der Marien-Kirchengemeinde Stiftberg in Herford wurde. Als er an Depressionen erkrankt, kündigte er dort nach 13 Jahren Tätigkeit seinen Rücktritt an. „Das sind Schlüsselmomente im Leben. Ich konnte meinem eigenen Anspruch nicht mehr gerecht werden. In der Gefängniszeit war mein Glaube immer da, aber nun spürte ich eine Leere. Ich fühlte mich im Stich gelassen. Das war viel schlimmer als der Knast“, erinnert er sich. „Ich bin dankbar, aus diesem Dunkel herausgekommen zu sein. Ich möchte das nie mehr erleben!“
Anfang 2020 kam er als Pfarrer mit einem Beschäftigungsauftrag in den Kirchenkreis Halle. Die freundliche Aufnahme habe ihn überwältigt. Eine gute, geschwisterliche Zusammenarbeit der Pfarrer habe er vorgefunden. Seine Ängste wurden genommen und sein Vertrauen in Gott wieder aufgebaut. Er habe quasi ‚neu laufen gelernt‘ und die Fähigkeit erhalten, Glauben weiterzugeben. Der Kirchenkreis Halle sei sein Zuhause. In der dörflichen Struktur von Brockhagen habe er sich sehr wohl gefühlt.
Offiziell geht der Theologe zum 30. Juni in den Ruhestand. In einem feierlichen Gottesdienst Anfang Mai wurde er in der Dorfkirche Steinhagen verabschiedet – mit einem besonderen Gast an seiner Seite: Wolf Biermann ließ es sich nicht nehmen, bei dieser Station im Leben seines Freundes dabei zu sein. Er sang für ihn das Lied „Ermutigung“. Die Beiden verbindet eine jahrzehntelange Freundschaft. Schon als junger Mann bewunderte Storck den Mut des Liedermachers und Regimekritikers und hatte ihn während seiner Buchhändlerlehre bereits einmal kurz sehen dürfen. 1981 fuhr er mit seiner Frau nach Hamburg, um seinem Vorbild zu begegnen. Daraus entstand eine Freundschaft, die bis heute anhält. „Die Lieder Biermanns halfen mir über schwere Zeiten hinweg. Das im Abschiedsgottesdienst vorgetragene Lied haben sich meine Frau und ich verbotenerweise zeilenweise durch die Gitterstäbe im Gefängnis zugesungen.“
Matthias Storck lebt mit seiner Frau in Bielefeld in der Nähe einer seiner Töchter, hat weitere zwei erwachsene Kinder und zwei Enkel. Er lacht, als er auf seine Pläne für den Ruhestand angesprochen wird. Darüber habe er noch nicht viel nachgedacht, wolle das in Ruhe auf sich zukommen lassen. Aber dann verrät er doch eventuelle Pläne. Kurze Urlaube könne er sich vorstellen, vielleicht nach Berlin. Menschen über Gemeindegrenzen hinaus zu besuchen, die ihm wichtig sind und für die er bisher wenig Zeit hatte.
Auch seine Vortragsreihe mache ihm Freude. Im Kirchenkreis referierte er über sein autobiografisches Buch „Karierte Wolken“ und einen Schriftsteller, der ihn sehr beeindruckt: Fjodor Dostojewski. Weitere Termine könne er sich vorstellen. Matthias Storck hat eine besondere Beziehung zu Büchern, fünf hat er selber geschrieben. Wie sieht es mit einem neuen Buch aus? „Das ist nicht ganz ausgeschlossen. Wie man mit dem Dunkel in einer schwierigen Lebenszeit umgeht, könnte ich mir als Thema vorstellen. Kein Ratgeber, eher ein Mutmacher.“ -dag-